"Komm´, geh mit auf den Weg der Kontemplation"

Folge 2

Sein ganzes Leben zur Sprache bringen ist sehr ungewohnt, wie soll das geschehen, wo ist der Ort dafür und mit wem?

Wenn mir daran gelegen ist, gehört das bewusste und das un­bewusste Leben dazu. Da muss ich mich aufmachen in be­kanntes und unbekanntes Land. Alles, was ich im Laufe meines Lebens verdrängt, unterdrückt und abgespalten habe, muss zur Sprache kommen, damit es Gott heilen und erlösen kann.
 
Ein langer Prozess, der enorme Anstrengung, Geduld und Ausdauer verlangt. Ein Weg, der nicht nur Freude macht, der Hilfe von sachverständigen Menschen und der liebenden Gegenwart Gottes bedarf.
 

 

Dieses Suchen und Ringen mit Gott schenkt mir letztlich seine heilende Nähe. Eine neue Wirklichkeit, eine innere Erfahrung, ein unmittelbares Getroffensein, etwas, das mich innerlich anrührt und beschäftigt. Erst dann kann es zu einem lebendigen Teil unserer selbst werden, wenn wir dieser Erfahrung Ausdruck und Gestalt geben. Das führt zu einer Selbstwahrnehmung, bei der ich erkenne, dass ich nicht immer nur Fragender, sondern auch Befragter bin.

 
 

In unserem Beten soll die ganze Wahrheit unseres Lebens zur Sprache kommen, so wie sie ist, so wie ich sie empfinde. Beten braucht diese Aufrichtigkeit. Es benötigt einige Zeit, eine gewisse Scheu zu überwinden, um sich zu trauen, alles, was einen bewegt, vor Gott zu tragen. Das innere Erleben, die Wahrnehmungen, wie sie sich spontan in Gefühlen, Haltungen und Bewertungen, aber auch in somatischen Reaktionen äußern, gilt es meinem Gott anzuvertrauen.

Nach und nach werde ich entdecken, wovon ich angerührt und getroffen bin, von der Undurchschaubarkeit meines eigenen Lebens, von der Brüchigkeit menschlicher Beziehungen, von der Macht des Bösen im eigenen Herzen, von der Verantwortung in persönlichen Entscheidungen, da, wo ich mich ausgenutzt und betrogen fühle, wo ich spüre, dass ich zu kurz gekommen bin, wo mir unerwartet vergeben wird, wo mir unerwartet Freude zuteil wird, wo sich unvermutet aus der festgefahrenen Situation ein Ausweg ergibt, wo es weitergeht, obwohl ich im Begriff war mich aufzugeben .
Diese Weise des Betens führt zur Wahrhaftigkeit, zu mir selbst, gegenüber meinen Mitmenschen und gegenüber Gott.
                                                                                 Ihr Diakon Jürgen Wies