Irgendwann hätte dann aber Ihre Generation mit ihren neuen Ideen in der Kirche an die Macht
kommen müssen. Wenn wir uns die Kirche heute ansehen, ist das offensichtlich nicht passiert. Sehe
ich das richtig?
J. Krautkrämer: Einerseits verändert Macht den Charakter. Andererseits habe ich immer
wieder große Widerstände erlebt, wenn ich nicht das tat, was die Mehrheit der Gemeinde vom Pfarrer
erwartet: Als ich zum Beispiel in Zollstock ein Arbeitslosencafé eröffnete oder mich für die
Zigeuner einsetzte, die in unserer Gemeinde angesiedelt wurden, da gab es böse Briefe und
Kirchenaustritte.
Hat sich die Kirche so entwickelt, wie Sie sich das gewünscht hätten?
V. Weyres: Im Zweiten Vatikanischen Konzil ist viel Aufbruch verkündet worden, zum
Beispiel im Hinblick auf die Ökumene. Die Grundstimmung des Aufbruchs ist aber gestoppt und
zurückgedreht worden in den Jahren von Paul VI., z. B. mit der Enzyklika zur Familienplanung, und
Johannes Paul II. hat bei allem politischen Weitblick auch vieles gebremst. Die Kirche kann sich
nur ändern, wenn es entschiedene Propheten gibt.
Es kommt also an auf die Figur des Pastors vor Ort, auf eine Personengruppe also, die immer
kleiner wird?
J. Krautkrämer: Da müssen wir vom Klerikalismus weg, vom Kaninchenblick auf den
Pfarrer.
Aber offensichtlich funktioniert das nicht, weil wir ein seit über tausend Jahren
dressiertes Kaninchen sind. Da machen es sich die Priester zu einfach. Immer noch werden auch
Lappalien im Alltag der Pfarre von der Geistlichkeit mitentschieden, auch in Gemeinden, in denen
eine insgesamt offenere Atmosphäre herrscht.
J. Krautkrämer: Das kommt erst dann, wenn die Bischöfe zulassen, dass eine Gemeinde von
Laien geleitet wird. Wenn die Priester weg sind und die Gemeinde ist noch da, dann sind Leute
bereit voranzugehen, um die Gemeinde am Leben zu erhalten.
V. Weyres: Wir müssen den Getauften und Gefirmten ihre Kompetenz bewusst machen, dass die
Autorität der Priester nicht mehr nötig ist.
J. Krautkrämer: Es besteht aber die Gefahr, dass auch der Laie Macht ausübt, die man nicht
mehr loswird. Es muss also Wahlen geben, für Priester und Laien in festgelegten Zeiträumen. Es ist
abhängig von den Personen, ob eine Gemeinde mit oder ohne Priester besser funktioniert.
Hat der Priester dadurch Macht, dass nur er die Eucharistie vollziehen darf?
V. Weyres: Diesen Gedanken lehne ich ab. Der Priester hat natürlich nicht die Macht, den
großen Gott in ein Stückchen Brot zu zwingen, wie es beim Pfarrer von Ars heißt. Die Eucharistie
ist ein Dienst für die Gemeinde. In einer Zeit des Priestermangels steht die Leitung der Kirche vor
der Herausforderung, auch erprobte Laien, auch Frauen, zu diesem Dienst einzuladen. Der Zölibat
erweckt heute mehr Zweifel als Vertrauen in die Autorität des Priesters.
Wem gibt Jesus die Macht, zu binden und zu lösen?
J. Krautkrämer: Jesus gibt seinen Freunden die Macht zu binden und zu lösen. Wer waren die
Freunde? Das waren "ungetaufte", "ungeweihte" jüdische Fischer und Handwerker. Der einzige
Unterschied: sie waren Anhänger und Freunde Jesu, fromm ausgedrückt: Sie standen in der Nachfolge.
Infolgedessen gilt der Auftrag Jesu all denen, die ihm nachfolgen.
V. Weyres: Die Interpretation von der alleinigen Macht des Priesters hat sich die Kirche
selbst gemacht.
J. Krautkrämer: Jesus wollte gar keine Kirche gründen. Er hat Petrus zum Anführer gemacht.
Wer sich da zum Nachfolger ernannt hat, der irrt sich.
V. Weyres: Die Kirche hat sich das antike hierarchische Verwaltungssystem zu Eigen
gemacht.
J. Krautkrämer: Und um das alles zusammenzuhalten, haben sie den Zölibat erfunden.