Von Macht und Ohnmacht der Priester
A. Gehrmann: Es gab eine Zeit, da waren die Autoritäten im Dorf der Arzt, der Schutzmann, der Lehrer und der Pastor. Existierte dieses Bild noch in der Zeit, als Sie sich für den Priesterberuf entschieden?
V. Weyres: Ich bin ja 1968 zum Priester geweiht, und für meine erste ländliche Gemeinde im
Vorgebirge trifft das voll zu: Pastor und Bürgermeister! Ich war 24, und in der Ausbildung bin ich
da hineingewachsen. Das war eine vorgeprägte Machtstruktur, die ich anfänglich sogar als Entlastung
empfand. Es wurde erwartet, dass ich in der Jugendarbeit der Brennpunkt und der Motor war. Meine
Rolle war klar, und alle wussten: Ah, der Herr Kaplan!
J. Krautkrämer: Ich hatte meinen Heimatpfarrer in Köln als eine ferne, unendlich mächtige
Gestalt erlebt, und als ich auf meine erste Stelle kam, da war die Hilflosigkeit groß. Ich hatte
keine Erfahrung in der Jugendarbeit, keine richtige Ausbildung für den Unterricht in der
Hauptschule und wusste gar nicht, was ich mit den älteren Messdienern machen sollte. Ich habe
gedacht: Ich bin doch noch einer von euch, und es war ein schmerzhafter Prozess, bis ich
kapiert hatte, dass das nicht mehr so war.
V. Weyres: Die Machtstruktur hat mich dazu motiviert, mein Bestes zu geben. Ich habe nicht
wahrgenommen, wie schnell ich mich überfordert habe. Wenig Schlaf, als Kaplan musstest du auch
immer viel Alkohol mittrinken, und schon nach vier Jahren war ich ausgebrannt. Ich habe dann die
Chance genutzt, in einer Priestergemeinschaft im Kloster wieder zu Kräften und zu mir selbst zu
kommen.
J. Krautkrämer: Meinen ersten Konflikt mit dem Pastor hatte ich, als alle Kommunionkinder
bei mir zur Beichte kamen und keins zum Pastor wollte – da hat er einen Brief geschrieben: entweder
der Kaplan oder ich! Über eine Zwischenstation kam ich dann zur Christlichen Arbeiterjugend CAJ, wo
der Geistliche nicht das Sagen hat, sondern gleichrangiges Mitglied der Diözesanleitung
ist.
Die Institution Kirche spielte ja in dieser Zeit stärker noch als heute eine wichtige Rolle in der Gesellschaft. Wie empfanden Sie sich als Vertreter dieser Instanz?
J. Krautkrämer: Ich habe, um dem zu begegnen, ein Jahr als Hilfsarbeiter in der Fabrik
gearbeitet. Nicht um den Betrieb zu missionieren, sondern ganz bewusst ganz unten am Sandstrahl, wo
es am dreckigsten, stickigsten und lautesten war.
Wie stark war die Kirche damals in der Gesellschaft?
V. Weyres: In den 70er Jahren hatte sich die Pfarrjugend meiner Gemeinde in Nippes sehr
auf Willy Brandt eingeschworen, und da hatte ich plötzlich gar nicht mehr die Rolle des Kaplans,
wie ich sie aus dem Vorgebirge kannte. Ich habe dann einen eigenen Jugendclub für gesellschaftliche
Außenseiter gegründet.
J. Krautkrämer: Die Kirche war sehr CDU-fixiert. Ich bin fast erschlagen worden, als ich
sagte, dass ich Willy Brandt wähle.
Aber war die Bewegung für Willy Brandt nicht eigentlich auch in Ihrem Sinne?
V. Weyres: Ich war sehr unsicher. Das stand in starkem Kontrast zu meinen Vorstellungen,
und ich fühlte mich selbst politisch noch stark an die CDU gebunden.
J. Krautkrämer: Da war die Kirche noch richtig übergriffig. Alles musste CDU wählen, und
die Kirche versuchte, die Schäflein mit Hirtenbriefen zusammenzuhalten.
Irgendwann hätte dann aber Ihre Generation mit ihren neuen Ideen in der Kirche an die Macht kommen müssen. Wenn wir uns die Kirche heute ansehen, ist das offensichtlich nicht passiert. Sehe ich das richtig?
J. Krautkrämer: Einerseits verändert Macht den Charakter. Andererseits habe ich immer
wieder große Widerstände erlebt, wenn ich nicht das tat, was die Mehrheit der Gemeinde vom Pfarrer
erwartet: Als ich zum Beispiel in Zollstock ein Arbeitslosencafé eröffnete oder mich für die
Zigeuner einsetzte, die in unserer Gemeinde angesiedelt wurden, da gab es böse Briefe und
Kirchenaustritte.
Hat sich die Kirche so entwickelt, wie Sie sich das gewünscht hätten?
V. Weyres: Im Zweiten Vatikanischen Konzil ist viel Aufbruch verkündet worden, zum
Beispiel im Hinblick auf die Ökumene. Die Grundstimmung des Aufbruchs ist aber gestoppt und
zurückgedreht worden in den Jahren von Paul VI., z. B. mit der Enzyklika zur Familienplanung, und
Johannes Paul II. hat bei allem politischen Weitblick auch vieles gebremst. Die Kirche kann sich
nur ändern, wenn es entschiedene Propheten gibt.
Es kommt also an auf die Figur des Pastors vor Ort, auf eine Personengruppe also, die immer
kleiner wird?
J. Krautkrämer: Da müssen wir vom Klerikalismus weg, vom Kaninchenblick auf den
Pfarrer.
Aber offensichtlich funktioniert das nicht, weil wir ein seit über tausend Jahren dressiertes Kaninchen sind. Da machen es sich die Priester zu einfach. Immer noch werden auch Lappalien im Alltag der Pfarre von der Geistlichkeit mitentschieden, auch in Gemeinden, in denen eine insgesamt offenere Atmosphäre herrscht.
J. Krautkrämer: Das kommt erst dann, wenn die Bischöfe zulassen, dass eine Gemeinde von
Laien geleitet wird. Wenn die Priester weg sind und die Gemeinde ist noch da, dann sind Leute
bereit voranzugehen, um die Gemeinde am Leben zu erhalten.
V. Weyres: Wir müssen den Getauften und Gefirmten ihre Kompetenz bewusst machen, dass die
Autorität der Priester nicht mehr nötig ist.
J. Krautkrämer: Es besteht aber die Gefahr, dass auch der Laie Macht ausübt, die man nicht
mehr loswird. Es muss also Wahlen geben, für Priester und Laien in festgelegten Zeiträumen. Es ist
abhängig von den Personen, ob eine Gemeinde mit oder ohne Priester besser funktioniert.
Hat der Priester dadurch Macht, dass nur er die Eucharistie vollziehen darf?
V. Weyres: Diesen Gedanken lehne ich ab. Der Priester hat natürlich nicht die Macht, den
großen Gott in ein Stückchen Brot zu zwingen, wie es beim Pfarrer von Ars heißt. Die Eucharistie
ist ein Dienst für die Gemeinde. In einer Zeit des Priestermangels steht die Leitung der Kirche vor
der Herausforderung, auch erprobte Laien, auch Frauen, zu diesem Dienst einzuladen. Der Zölibat
erweckt heute mehr Zweifel als Vertrauen in die Autorität des Priesters.
Wem gibt Jesus die Macht, zu binden und zu lösen?
J. Krautkrämer: Jesus gibt seinen Freunden die Macht zu binden und zu lösen. Wer waren die
Freunde? Das waren "ungetaufte", "ungeweihte" jüdische Fischer und Handwerker. Der einzige
Unterschied: sie waren Anhänger und Freunde Jesu, fromm ausgedrückt: Sie standen in der Nachfolge.
Infolgedessen gilt der Auftrag Jesu all denen, die ihm nachfolgen.
V. Weyres: Die Interpretation von der alleinigen Macht des Priesters hat sich die Kirche
selbst gemacht.
J. Krautkrämer: Jesus wollte gar keine Kirche gründen. Er hat Petrus zum Anführer gemacht.
Wer sich da zum Nachfolger ernannt hat, der irrt sich.
V. Weyres: Die Kirche hat sich das antike hierarchische Verwaltungssystem zu Eigen
gemacht.
J. Krautkrämer: Und um das alles zusammenzuhalten, haben sie den Zölibat erfunden.
Und damit sind wir dann beim Missbrauch von Macht: Entsteht der durch die strenge Ordnung, der Priester sich unterwerfen müssen?
J. Krautkrämer: Das sehe ich nicht so.
V. Weyres: Priester haben Spielraum, zu entscheiden, ob sie sich unterwerfen oder nicht.
Es ist allerdings nicht ermutigend, zu sehen, wie der Erzbischof Woelki da immer enger wird. Es ist
undurchsichtig, was ihn wirklich leitet und was seine Hoffnung ist.
J. Krautkrämer: Bei der Umstrukturierung von Gemeinden mussten wir erleben, dass
Veränderungen ohne Rücksicht auf Laien und Priester durchgezogen wurden.
Erleichtert das System den Missbrauch priesterlicher Macht, sei er sexueller, sei er finanzieller Art?
V. Weyres: Veranlagung und System gehen da ineinander über.
J. Krautkrämer: Dazu kommt der Sockel, auf den Priester gestellt werden, der es den
Missbrauchsopfern so schwer macht, Glauben zu finden.
V. Weyres: Gerade jetzt gibt es schreckliche Fälle von sexueller Gewalt in geistlichen
Gemeinschaften, die trotz eindeutiger Aussagen von der Ordensleitung geleugnet werden.
J. Krautkrämer: Es ist unfassbar, dass die Täter ins Kloster geschickt werden und nicht
ins Gefängnis.
Sind die Verweigerung, das Fernbleiben, der Austritt die einzige Möglichkeit für Laien, Macht auszuüben? Und hat das dazu geführt, dass jetzt bloß noch die in der Kirche sind, die keine Veränderung mehr wollen?
V. Weyres: Das glaube ich nicht. Ich erlebe eine leise Entwicklung des Neubeginns, zum Beispiel wenn Eltern ihre Kinder zur Taufe bringen. Da ist noch ein Potential von Leuten.
J. Krautkrämer: In Severin und Maternus spüren wir doch, dass viele sich bewegen und auf
Neues einlassen. Insgesamt hat die Kirche die Talsohle zwar noch lange nicht erreicht, aber es wird
weitergehen.