Wer mit Macht ausgestattet ist, kommt in die Versuchung damit zu drohen, denn Macht ist
verführerisch. Machtgefälle bergen die Gefahr, missbräuchlich ausgenutzt zu werden. Auch in unserer
Kirche gibt es solche Gefälle und sie werden leider meist wie selbstverständlich akzeptiert. Ich
zucke immer zusammen, wenn jemand von Zeiten "unter" Bischof X oder Pfarrer Y berichtet. Die
Überzeugung, dass wir alle, die Getauften und Gefirmten, als Volk Gottes mit gleicher Würde
miteinander unterwegs sind, scheint gegen die jahrhundertealten Gewohnheiten des "Klerus oben –
Laien unten" noch weithin chancenlos zu sein.
Dieses überkommene Machtgefälle im Gefüge der Kirche ermöglicht Missbrauch. Was alles an
Missbrauch verschiedener Art geschehen ist (und hoffentlich nie wieder geschehen wird), zeigen uns
die erschreckenden Enthüllungen der jüngsten Zeit. Es ist gut und richtig, ja überfällig, dass die
Gründe für "auch systembedingten" Missbrauch lücken- und schonungslos erkannt und benannt werden
und dass Struktur verändert wird. Dass Struktur – nicht nur in der Kirche – Machtmissbrauch
begünstigen kann, heißt selbstverständlich nicht, dass jede/r mit Macht Ausgestattete dieser
Versuchung der Macht auch erliegt.
Zurück zu Pilatus und Jesus: Jesu Antwort lautet:
Du hättest keine Macht über mich, wenn es Dir nicht von oben gegeben wäre. (19,11) Zwei
Deutungsmöglichkeiten drängen sich auf: Einerseits erinnert Jesus Pilatus daran, dass er
Statthalter von des römischen Kaisers Gnaden ist und ihm die Macht "von oben" nur verliehen ist.
Fatalerweise springen die, die Jesus ausgeliefert haben, sofort darauf an:
Wenn Du ihn freilässt, bist Du kein Freund des Kaisers. (19,12) Damit erinnern sie ihn an
seine Abhängigkeit. Und er? – Er knickt ein, verurteilt Jesus zum Tod und nutzt seine Macht zum
eigenen Machterhalt.
Ganz anders Jesus: Er zeigt hier in seiner scheinbaren Ohnmacht wahre Macht:
Du hättest keine Macht über mich, wenn es Dir nicht von oben gegeben wäre. (19,11) Das ist
schließlich auch zu deuten als die Macht, die von anderer Stelle "von oben", von Gott, kommt.
Dieser göttlichen Macht vertraut Jesus sich absolut an:
bis hinein in den Tod, der aussieht wie die totale Niederlage, denn am Kreuz verstummt das
fleischgewordene Wort (1,14). Seine letzten Worte:
Es ist vollbracht. (19,30)
In der Ohnmacht des sterbenden Jesus am Kreuz zeigt sich die Macht der Liebe, die den Tod
überwindet und uns damit aus der Fülle Gottes
Gnade über Gnade (1,16) schenkt. Wie diese Liebe, die menschlich-irdische
Machtverhältnisse umkehrt, aussehen kann, zeigt Jesus in der Fußwaschung: Er, der mit aller
Vollmacht des Vaters ausgestattet ist, macht sich zum liebenden Diener aller und erklärt:
Ich habe Euch ein Beispiel gegeben, damit auch Ihr so handelt, wie ich an Euch gehandelt habe.
(13,15) Und damit es auch wirklich jeder versteht:
Ein neues Gebot gebe ich Euch: Liebt einander! Wie ich Euch geliebt habe, so sollt auch Ihr
einander lieben. (13,34)
Wo menschliche Machtverhältnisse, auch kirchliche, als Über- und Unterordnung, definiert
bleiben, hat dieses so alte neue Liebesgebot nur wenig Chancen. Wo aber die Macht, die "von oben"
verliehen ist, je neu am Maßstab der Liebe geprüft wird, kann Leben in Fülle wachsen. Die
Vollmacht, die der auferstandene Christus seinen Jüngern verleiht, ist eine Weitergabe vom Vater an
den Sohn und vom Sohn an die Jünger und an uns: Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich Euch.
Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sprach zu ihnen:
Empfangt den Heiligen Geist! (20,21f)
Für uns alle als Geistbegabte – nicht nur für die, die nach den menschlich-hierarchischen
Maßstäben der Kirche Macht haben – gilt das neue Gebot: Liebt einander!
Aus dieser Verantwortung kann sich niemand davonstehlen oder aus Bequemlichkeit anderen die
Macht überlassen. Mit dieser Vollmacht sind wir als Getaufte und Gefirmte Kirche.
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Annette Blazek, Pastoralreferentin