Symbole haben auch die Funktion, offen zu sein und zu öffnen für eigene Deutungen,
Assoziationen und Gedanken. Christoph Schmitz entfaltet seine Gedanken zum "Großen liegenden
Christus" von Franz Gutmann in der Kirche St. Maternus.
In Sankt Maternus liegt das Kreuz am Boden. Das christliche Symbol schlechthin ist hier nicht
erhöht, schwebt nicht über allem und jedem, sondern liegt am Boden, zerstört, auseinandergefallen,
zweigeteilt, der Körper auf den Querbalken lediglich abgelegt. Ein riesiger alter Baum ist hierfür
gefällt worden. Die Spuren sind auf dem Querbalken deutlich sichtbar: Die Messer der Kettensäge
haben den Stamm zu einem Vierkant zurechtgeschnitten, sich ins Holz hineingefressen. Der Körper
dagegen ist fast liebevoll bearbeitet, gerundet, geglättet. Die Maserung des Holzes gleicht den
geschwungenen, wellenförmigen Linien eines Fingerabdrucks. Diese Figur hat eine Haut.
Die Füße allerdings mit ihren zehn fast gleich großen Zehen liegen brav übereinander und wirken
fast plump – volkstümliche Einfachheit, naive Schlichtheit, von den Qualen der Folter keine
Spur, bis auf das Loch im Fußspann, wo der Nagel fehlt. Die Tortur ist überstanden, der Leichnam
vom Kreuz abgenommen. Wobei die Beine nur bis auf Kniehöhe ausgearbeitet sind, der Körper ist nur
angedeutet, abstrahierte Wirklichkeit. So bleibt die Gestalt des Gekreuzigten ein wenig versteckt,
als wolle er sich einerseits nicht ganz offenbaren, und als habe andererseits den Künstler eine
gewisse Scheu davon abgehalten, deutlicher zu werden - um der Sache nicht zu nahe zu treten, nicht
aufdringlich zu werden, ein Geheimnis zu wahren? Oder mangelte
es ihm an Zuversicht? Oder ist ihm dieses Symbol, dieser Christus letztlich ein Rätsel?
Einen Bauchnabel hat der Bildhauer dennoch gewagt. Doch etwas Wesentliches nicht: die Arme.
Dieser Jesus hat keine Arme. Er hat nichts mehr zum
Ausbreiten und Austrecken. Der menschgewordene Gott kann in Sankt Maternus die Welt nicht
mehr umgreifen, umfassen, umarmen, wie das Kreuzsymbol seit je gedeutet worden ist. Dabei steckt in
diesem riesigen und massiven Körper doch so viel Kraft, Ruhe und Erhabenes: Die wie gekämmt
wirkenden Linien der stilisierten Bartspitze zeugen davon, romanische Königswürde. Aber es ist eben
nur der halbe Bart, die untere Hälfte. Denn das Antlitz ist verdeckt, verhüllt, von einer
Dornenkrone ohne Dornen, als sei sie vom Schädel ins Gesicht gerutscht, ein Geflecht, das das Haupt
des Gekreuzigten umschlingt wie Schlangen.
Wo ist hier noch Hoffnung auf Erlösung? Wollte der Künstler möglicherweise nichts über den
Gekreuzigten sagen, sondern darüber, was wir Christen aus dem Gekreuzigten und dem Symbol des
Kreuzes und den Symbolen der Liturgie gemacht haben und machen?
Der Bildhauer Franz Gutmann (geb. 1928 im Münstertal, Meisterschüler von Ewald Mataré) hat den
"Großen Jesus" 1989 und 1990 aus zwei Eichen geschlagen. Zunächst lag die fünfeinhalb Meter lange
und fast einen Meter breite liegende Holzskulptur im Eingangs-bereich von St. Maternus. Im Jahr
2007 kam sie als Leihgabe von Groß St. Martin in die Südstadt. Inzwischen ist sie dauerhaft in St.
Maternus beheimatet und hat ihren Platz im Chorraum der Kirche gefunden.