"Ich bin voller Hochachtung vor der Leistung meiner Mutter, und das umso mehr, je älter ich
selbst werde." Vor allem in der Zeit der Pubertät wollte die Tochter die Wurzeln der Mutter
kennenlernen; sie habe gefragt und immer wieder gefragt, aber die Mutter schwieg hartnäckig.
Inzwischen ist es beiden hin und wieder möglich, über die Vergangenheit zu sprechen.
Im Winter 1944/45 plante Oepen-Domschkys Großmutter mit ihren Schwestern (der Großvater war als
Soldat an der Westfront) und ihren beiden Kindern vom Hof in einem Dorf bei Posen nach Westen zu
fliehen, aber es war klirrend kalt, und so blieben sie aus Furcht, dass die Kinder erfrieren. Über
das, was geschah beim Einmarsch der russischen Armee, gibt es nur bruchstückhafte Erzählungen.
Berichtet wurde etwa, dass eine Großtante später an den Folgen schwerer Misshandlung
starb.
In den Nachkriegsjahren hatte sich die Familie offensichtlich arrangiert mit der neuen
Zugehörigkeit zum polnischen Staat und dort auch neue Wurzeln geschlagen. Als dann 1957 im Rahmen
der letzten großen Welle der Familienzusammenführung durch das Rote Kreuz Kontakt zum Großvater
hergestellt werden konnte, entschloss sich die Großmutter, mit den Töchtern in den Westen zu gehen.
Nach einem Aufenthalt im Lager Friedland traf man sich im Ruhrgebiet.
Wider Willen ging Marta Domschky als 18-jährige junge Frau mit, ließ ein vertrautes Umfeld
zurück. In Polen hatte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht, die sie im Westen
neuerlich absolvieren musste. Zu dem ihr fremden Vater konnte sie keine Beziehung mehr aufbauen,
machte sich sofort selbständig. Tiefe Freundschaften sind offenbar nicht mehr entstanden. "Die
Arbeit in ihrem Beruf hat sie sehr getragen", meint die Tochter. Deren Vater wurde als Kind ähnlich
oft verpflanzt. Seine Familie floh 1949 bei Nacht und Nebel aus Erfurt in den Westen, ein
Familienmitglied saß nach sowjetischer Kriegsgefangenschaft nochmals im Speziallager Nr. 4
(Teil des späteren Stasi-Gefängnisses) in Bautzen ein.
Nicht nur die Tätigkeit als Krankenschwester hat Marta Domschky geholfen, Wurzeln zu schlagen,
sondern auch die Geburt der drei Kinder und das eigene Häuschen, das unter vielen Mühen gebaut
wurde.
Sehr bewegt schildert die Historikerin Oepen-Domschky eine Erfahrung: "Im Rahmen einer Recherche
begegnete mir eine Karte, auf der mit dicken Pfeilen die Wege der russischen Armee nach Westen
eingezeichnet waren, und ich habe da erst wirklich realisiert, dass eine der Hauptrichtungen mit
zehntausenden Soldaten über Posen ging. Erst danach habe ich meiner Mutter das Recht auf ihr
Schweigen zugestanden."
Auf die Frage, wie Marta Domschky ihren Lebensabend verbringen möchte, weiß sie eine klare
Antwort – nur "mit den Füßen zuerst" möchte sie aus dem eigenen Haus wieder ausziehen. Ihre
Tochter versteht mittlerweile, dass sie die endlich festsitzenden Wurzeln nicht wieder ausreißen
kann.