Dienstagabend in St. Severin: Die Gläubigen versammeln sich im Hochchor zur Messe und nehmen wie
die Stiftsherren des Mittelalters Platz im uralten Chorgestühl. Am Ende des Gottesdienstes
schreiten sie zusammen mit dem Priester, Messdienerinnen und Messdienern in einer kleinen
Prozession unter dem Schrein des hl. Severin hindurch und an den Reliquien vorbei, die in den dann
geöffneten Schatzschränken des Hochchors zu sehen sind.
Auch dieses wöchentlich sich wiederholende Geschehen gehört zu den Traditionen der
Severinusverehrung. Schon in der Lebensbeschreibung des hl. Severin (9./10. Jahrhundert) ist die
Rede davon, dass die Kölner "in jeder einzelnen Woche an einem
bestimmten Tag zum Grab des hl. Severin kamen, damit sie für die ganze Woche durch seinen Schutz
aufrecht gehalten werden". Ob man darin einen ersten Hinweis auf die Ursprünge der heutigen
Severinusmesse sehen kann? Bei solchen Schlussfolgerungen ist Vorsicht angebracht, denn für das
Mittelalter sind die Belege insgesamt dünn. Allerdings ist schon für 1219 der Montag als der Tag
der wöchentlichen Severinusverehrung genannt. Erst ab dem 17. Jahrhundert wissen wir besser
Bescheid. Für 1729 ist eine Gottesdienstordnung überliefert, aus der hervorgeht, dass man jeden
Montag in St. Severin neun Messen las, zu denen "das Volk zahlreich in unsere Kirche
strömt."
1741 wurde ein erstes Heft mit Liedern und Gebeten zur Severinusverehrung gedruckt. Ein zweites
Heft stellte 1806 der bekannte Kunstsammler, Kanoniker und Professor Franz Ferdinand Wallraf
zusammen. Weitere Sammlungen von Gebeten und Liedern zur Severinusverehrung folgten im 20.
Jahrhundert. In dieser Reihe bildet nun das Ende Mai 2017 erschienene Heft den Schlusspunkt –
bis es irgendwann selbst einen Nachfolger findet.
An der Severinusmesse lässt sich gut ablesen, wie eine solche Tradition einem stetigen
Wandlungsprozess unterliegt – und zwar in Form und Inhalt. So werden heute nicht mehr neun
Messen gelesen, sondern eine Messe gefeiert, und dabei wird auch nicht mehr, wie in Wallrafs Heft
vorgesehen, für Kaiser Napoleon als Stifter ewigen Friedens auf Erden gebetet. Selbst der
wöchentliche Termin hat sich in den letzten Jahrzehnten von Montag auf Dienstag verschoben.
Neben der Bezeichnung Severinusmesse ist auch der Namen "Hörnchensmesse" geläufig. Er leitet
sich ab von einem der Reliquiare im Hochchor von St. Severin, an denen die kleine Prozession
vorbeizieht. Beim "Hörnchen" handelt es sich um ein verziertes Büffelhorn, das um 1500 als
Reliquiar hergerichtet wurde. Es verweist auf den hl. Kornelius – zusammen mit dem hl.
Cyprian Kompatron von St. Severin –, denn ein Horn ist das herkömmliche Attribut des hl.
Kornelius. Das wiederum ist auf die volksetymologische Ableitung des Namens "Cornelius" von
lateinisch "cornu" (Horn) zurückzuführen.
Wenn die Gläubigen heute am Ende der Severinusmesse unter dem Schrein und an den übrigen
Reliquien vorbeiziehen, dann gewiss nicht mehr mit der Idee, man könne das Heil, welches von den
Gebeinen ausgeht, auf sich übertragen – wohl aber in der Gewissheit, in einer langen
gottesdienstlichen Tradition zu stehen und sich so in eine lange Kette von Betern vieler
Generationen einzureihen. Dabei wird auch den in wertvollen Reliquiaren geborgenen Gebeinen
verstorbener Menschen die Referenz erwiesen – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dahinter
steht jedenfalls eine vollkommene andere Haltung zum menschlichen Körper und zum Leben an sich als
sie etwa menschenverachtende Regime und Ideologien der Moderne an den Tag legen.