Schon vor Jahren hat mich das Buch des kürzlich verstorbenen anglikanischen Erzbischofs Desmond
Tutu und seiner Tochter Mpho Tutu – sie ist Priesterin einer Episkopalkirche – nachhaltig
beeindruckt; im Blick auf das aktuelle Pfarrbriefthema habe ich es erneut in die Hand genommen. Und
neuerlich bin ich beeindruckt von den überzeugend vorgetragenen Anleitungen zu Vergebungs- und
Versöhnungsprozessen.
Als Vorsitzender der Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika ist Tutu wie kein
anderer in der Lage, das Thema aufgrund eigener Erfahrung zu entfalten.
"Ich habe oft gesagt, dass es für Südafrika ohne Vergebung, ohne Versöhnung keine Zukunft
gegeben hätte. Unsere Wut und das Streben nach Rache hätten uns in den Untergang geführt. Das
Gleiche gilt auch für jeden einzelnen Menschen und für die Menschheit insgesamt."
Wege zur Vergebung als Voraussetzung zur Versöhnung, das beschreiben beide anschaulich – zum
Teil erschreckend anschaulich – und konkret anhand sehr vieler Beispiele. Dabei geht es um
Erfahrungen, die wir aus unserem Alltag kennen, aber sie berichten auch von gravierenden
Verletzungen, von unvorstellbarer Grausamkeit.
Vergebung und Versöhnung beschreiben sie als einen Weg in vier Schritten:
- Die Geschichte erzählen
- Die Verletzung beim Namen nennen
- Vergebung praktizieren
- Die Beziehung erneuern oder beenden
Sie betonen immer wieder, wie schmerzhaft und schwierig diese Prozesse sind, aber auch wie
befreiend, wenn sie gelingen. Sehr klar machen sie deutlich, dass Vergeben nicht Vergessen bedeutet
und dass mit Vergebung keinesfalls Recht und Gesetz außer Kraft gesetzt sind.
Es geht in dem "Vierfachen Pfad" – wie sie es nennen – nicht nur um das aktive Vergeben in
einem zwischenmenschlichen Konflikt, sondern auch um die Selbstvergebung und um Situationen, in
denen wir Vergebung benötigen. Entgegen der landläufigen Vorstellung, dass Vergebung ein Zeichen
von Schwäche sei, wird deutlich, dass es vielmehr ein Akt von oft mühsam erkämpfter Stärke ist.
Die vier Schritte werden ausführlich und praxisnah beschrieben. Jedes Kapitel endet mit einer
Zusammenfassung der wesentlichen Inhalte, und zugleich gibt es jeweils Anleitungen zu meditativen
Übungen und Ritualen, die den Prozess unterstützen.
"Der Vierfache Pfad ist ein Dialog, an dessen Anfang die persönliche Entscheidung steht,
Heilung erfahren und frei sein zu wollen … wir sitzen inmitten unseres Schmerzes und Verlustes und
müssen entscheiden, welchen Weg wir einschlagen: Vergeltung oder Versöhnung... Es spielt keine
Rolle, ob die andere Person bereut oder ohne Reue ist, … Schuld eingesteht. Vergebung ist keine
Entscheidung, die wir für andere treffen, es ist eine Entscheidung, die wir für uns selbst
treffen."
Ingrid Rasch