Brigitte M.* über ihren Stiefvater: Als Kind habe ich meinen Stiefvater in Gedanken auf viele unterschiedliche Arten umgebracht.
Ich habe sehr viel Gewalt erlebt durch ihn, bin oft und sehr heftig geschlagen worden, das hat in
mir so viel Aggression erzeugt, mit der ich nur auf diese Weise umgehen konnte. Meine Mutter hat
immer zu mir gestanden, aber auch sie konnte sich seiner nicht erwehren. Die Verbindung zu meiner
Mutter hat mir Kraft gegeben, und diese meine intensive Verbindung zu ihr ist bis zu ihrem Tod
geblieben.
Unversöhnt war und bin ich mit ihrem Vater, also meinem Großvater. Als meine junge,
allein-erziehende Mutter ihn um Unterstützung bat, verweigerte er das und schlug vor, mich zur
Adoption freizugeben. Das war für meine Mutter total unvorstellbar.
Versöhnen konnte ich mich als erwachsene Frau mit meinem Stiefvater. Als er im Sterben lag,
wurde sehr deutlich, dass ihn etwas sehr beschwert und bedrückt. Ich habe mir bewusst gemacht, wie
schwer sein Leben war, wie viel er gelitten hat im Krieg, in russischer Gefangenschaft – heute
würde man von traumatischen Erfahrungen sprechen. Mit einem Kind wie mir war er überfordert. Ich
hatte mich innerlich damit schon zuvor auseinandergesetzt und meinen Frieden mit ihm gemacht. Das
konnte ich ihm dann auch auf dem Sterbebett sagen, und er ist friedlich gestorben.
* Name geändert
Monika B.* und der Ehering Schon vor der Scheidung, aber noch deutlicher danach stellte sich mir die Frage: Was mache
ich mit meinem Ehering? Erinnerungen stiegen auf an den Moment des Ringtauschs bei der Trauung vor
dem Altar, an das Versprechen "vor Gott und den Menschen" der lebenslangen Verbindung. Erinnerungen
auch an die inneren und äußeren Auseinandersetzungen, die der Trennung vorausgegangen waren, und
schließlich an den Entschluss, die Treue zu mir selbst über die Treue zu diesem Versprechen zu
stellen.
Und plötzlich war da die Idee, den Ehering und damit auch die langjährige Ehe zu würdigen,
indem ich ihn umarbeiten lasse. Eine Goldschmiedin hat mit dem Gold des Eherings Edelsteine und
kleine Diamanten gefasst und sie auf einer Brosche angeordnet. Ein Teil dieser Steine stammte aus
Schmuckstücken, die innerhalb der Ehe von besonderer Bedeutung waren, aber es waren auch Steine aus
einem Ring meiner früh verstorbenen Mutter. So entstand eine "Lebensbrosche" – ein Schmuckstück,
das mich versöhnt in die Vergangenheit zurückschauen lässt, mich in der Gegenwart erfreut und mich
hoffentlich in die Zukunft begleitet.
* Name geändert
Ich habe mich versöhnt
Friederike L.* schreibt an ihren «Noch-Ehemann» am Tag der Scheidung Lieber Michael*,
schon diese Anrede ist ein Akt der Versöhnung: du warst in den letzten Jahren alles andere
als «lieb», hast mich gequält, verfolgt.
Heute werden wir geschieden – fast genau 20 Jahre nach der Hochzeit. Nach 15 weitgehend
glücklichen Ehejahren hast du dich ziemlich schlagartig gewandelt: von einem der hilfsbereitesten
Menschen, die mir je begegnet sind, zu einem erbitterten Feind, der sogar gegenüber dem Gericht
behauptet, ich sei gar nicht schwer erkrankt, sondern würde das alles nur vorspielen, um Geld zu
erpressen. Grausamer Rosenkrieg. Ich habe das Ende der Scheidung herbeigesehnt – endlich befreit
sein von Anwaltsbriefen, Gerichtskosten, unendlichen Beweisführungen, Gegendarstellungen. Und doch
sehe ich dich jetzt im Traum als liebenswerten Menschen, der du ja auch mal warst. Ich habe endlose
Stunden nachgegrübelt, um zu verstehen, was passiert ist, auch über meinen eigenen Anteil an dem
Desaster. Ich werde wohl nie eine umfassende Antwort bekommen.
Aber du gehörst zu meinem Leben. Ich versuche, nach all den schlimmen Erfahrungen der letzten
Jahre die glücklichen Stunden davor nicht zu vergessen. Wir waren mal ein gutes Team, haben sehr
viele Interessen geteilt, aber unsere Bedürfnisse waren nicht gleich. Gemeinsame Interessen genügen
nicht, wenn das Schwingen der Seelen fehlt. Vor allem, wenn eine Krankheit alle bisherigen Pläne
plötzlich auf den Kopf stellt. Jetzt sind wir für immer getrennt. Ich lebe inzwischen ganz woanders
und habe dir bewusst nicht gesagt, wo. Es gab Zeiten, da war ich so getroffen, da habe ich dir
gewünscht, es möge dir richtig schlecht gehen, damit du ansatzweise spürst, wie sehr du mich
verletzt hast.
Aber Rache hilft nicht. Ich versuche loszulassen, mich zu versöhnen mit dem, was war und
jetzt ist. Inzwischen denke ich: du bist vermutlich nicht glücklich. Du wirkst fast wie in dir
selbst gefangen. Ich bin gesundheitlich sehr eingeschränkt. Ich habe finanziell richtig viel
verloren, das ist sehr bitter. Aber ich bin weitgehend mit mir im Reinen, fühle mich innerlich
immer häufiger frei und offen für Neues. Der Schmerz lässt langsam nach. Ich wünsche dir, dass du
Frieden machen kannst, jetzt, wo wir endlich geschieden sind. Ich möchte dir durch all das Dunkle,
Schwere, Grausame der letzten Jahre zurufen: Danke für die gemeinsame gute Zeit davor.
* Name geändert
Ich möchte mich gerne versöhnen
Georg K.* und sein Bruder Ich bin überzeugt: Die Auseinandersetzung mit der Versöhnung geschieht nur mit einem selbst,
auch wenn es ein Gegenüber gibt, das eine Versöhnung schwer oder unmöglich macht.
Ich bin 77 Jahre und habe – ausgelöst durch den Tod eines nahen Verwandten – die Begrenztheit
auch meines Lebens vor Augen. Die Auflösung des Nachlasses, des Hausstandes, die Konfrontation mit
den materiellen Hinterlassenschaften seines Lebens lässt mich unmittelbar spüren, wie bedeutungslos
diese Dinge angesichts des Todes sind. Und es lässt mich fragen: Was bleibt? Was gibt es noch zu
tun? Was hat wirklich Bedeutung in meinem Leben?
Bedeutung haben die Menschen, die mir nahestehen, und dazu gehört mein vier Jahre älterer
Bruder. Trotz vieler guter Zeiten, gemeinsamer Erinnerungen, gemeinsamer Erlebnisse über die langen
Jahre gab und gibt es doch auch Unstimmigkeiten, banale zum Teil. In jüngster Zeit sind allerdings
sehr gravierende Konfliktfelder entstanden, tiefe Gräben zum Beispiel zwischen seiner und meiner
politischen Ausrichtung, seiner und meiner Einstellung zum Thema Flüchtlinge. Ich erfahre von ihm
verletzende Abwertungen bis hin zu persönlichen verbalen Demütigungen. Würden sie von seiner Seite
gesehen, dann wären sie besprechbar, klärbar und mit einer glaubhaften Entschuldigung ohne
nachhaltige Verletzung "aus der Welt zu schaffen". Aber er sieht es nicht, spürt es nicht, geht
darüber hinweg. Da ist eine Sprachlosigkeit entstanden, die schwer aufzulösen ist. Ich sage: "Dein
Verhalten macht mich sprachlos", und er antwortet: "Wenn Du sprachlos bist, dann brauchen wir ja
nicht mehr darüber zu reden." Ich bin tief verletzt, und er sieht es nicht, kann oder will es nicht
sehen, setzt sich darüber hinweg.
Kann ich mich versöhnen? Brauche ich dazu seine Einsicht, seine Entschuldigung?
Ich glaube es nicht mehr. Ich muss vielmehr von mir aus den Wunsch zu Versöhnung spüren und
mich dafür entscheiden. Mir ist es wichtig, mich mit ihm zu versöhnen, auch wenn es für ihn
offenbar kein Thema ist. Die über Jahrzehnte gewachsene Vertrautheit hilft mir, die eigene
Betroffenheit zu überwinden und die eigene innere Stärke zu spüren, um mich dadurch vom Gefühl der
Demütigung zu lösen.
* Name geändert
Ich kann und will mich versöhnen
Versöhnung ist etwas Schönes, findet Elisabeth Franziska D.* Das ist schnell gesagt. Das Glück der Versöhnung kennt nur derjenige richtig, der auch
Unversöhnlichkeit erfahren musste und darunter gelitten hat. Beides habe ich mit weit über siebzig
Lebensjahren erlebt. Nun stehe ich vor der letzten Strecke meines Lebensweges, bin mir dessen
bewusst und frage mich, wie lang sie sein kann. Ich bekomme darauf keine Antwort.
Ich blicke zurück: Was ist alles gewesen? Armut, aber glückliche Kindheit in der
Nachkriegszeit. – Heitere und fröhliche Schulzeit, wenn ich auch wegen des fehlenden Geldes immer
bei denen war, die nicht alles mitmachen konnten. Berufsausbildung. Ehe, naja, war es die große
Liebe? Kinder geboren, vollkommenes Glück. – Die Last langer Pflege und Sterben des Mannes; der
Schwiegereltern; der eigenen Eltern. – Alleinsein. – Und nun alt. Die Zahl der gestorbenen
Menschen, die ich gekannt habe, die ich nicht mehr fragen kann, denen ich nichts mehr mitteilen
kann, wird immer größer.
Die Mühsal des Alltags macht mir immer mehr zu schaffen. Manchmal habe ich dazu keine Lust
mehr. Klar, so einiges geht noch. Eigentlich noch viel, wenn ich beginne aufzuzählen... Die Reise
nach Griechenland, zu der ich quasi überredet wurde. Sie hat wunderbar geklappt. Trotz
Corona-Pandemie.
Das ganze Jahr keinmal die Kartoffeln angebrannt!
Das Musizieren – auch das geht noch, sogar mit viel Freude. Aber da ist das nachlassende
Gehör ...
Ich seufze. Bete. Ich will bescheiden sein! Und werde es! Und mit einem Mal entdecke ich,
dass ich mich an Kleinem sehr freuen kann: Junge Leute können höflich, freundlich und hilfsbereit
sein. Sieh an! – Ein leuchtend gelb blühender Forsythienstrauch nach langem düsterem Winter, welche
Freude! Ein kleines Kind, so ahnungslos noch, aber mutig ausschreitend an der Hand von Vater oder
Mutter. Man möchte es knutschen! Eine mit vielen kleinen Mühen und Umständlichkeiten durch den
Winter gebrachte Geranie auf dem Balkon beginnt nun tatsächlich zu blühen, ich bin stolz.
Langsam erkenne ich mich selbst als gereiften Menschen. Bin dankbar dafür. Bin mehr und mehr
mit der Vergangenheit versöhnt, versöhnt mit dem Leben überhaupt.
Und bin nun auch bereit, das letzte Stück dieses Lebens, das Unvermeidliche,
anzunehmen.
Gott sei Dank.