Das alttestamentliche Buch Genesis beschreibt einen existentiellen Konflikt zwischen den Brüdern Esau und Jakob. Jakob bringt den Bruder im Tausch gegen ein Linsengericht um sein Erstgeburtsrecht und mit einer Täuschung auch noch um den lebenswichtigen väterlichen Segen. Kann es Versöhnung geben?
Diakon Dr. Barthel Schröder zeichnet den Weg dazu in den biblischen Texten nach.
"Jakob erhob seine Augen und sah: Und siehe, Esau kam und mit ihm vierhundert
Mann." (Genesis 33,1)
Jakob hatte seinen Bruder Esau immer wieder betrogen, und dieser hatte gedroht, ihn umzubringen,
sodass er geflohen war. Jakob hatte also allen Grund, Angst vor einem Wiedersehen zu haben. Zu
Recht, wie die vierhundert Mann zeigen, die Esau begleiten.
Jakob hat sich nicht freiwillig dieser Situation ausgesetzt. Gott hatte verlangt, dass er in
das Land seiner Väter zurückkehrt, und damit war eine Konfrontation mit Esau unumgänglich. Nur eine
Versöhnung mit dem Bruder konnte ihn dort leben lassen. In der Nacht zuvor hatte er noch Gott
gebeten:
"Entreiß mich doch der Hand meines Bruders, der Hand Esaus."
(Genesis 32,10)
Doch Gott entlässt ihn nicht aus der Verantwortung, denn nach jüdischem Verständnis kann Gott
Sünden gegen den Nächsten nur verzeihen, nachdem die geschädigte Person um Verzeihung gebeten
wurde.
Versöhnung ist ein Prozess, der mit einer inneren Bewegung beginnt, und führt im besten Fall
zu einer Begegnung mit dem Kontrahenten. Erschwerend wirkt in diesem Fall, dass die Brüder sich
lange nicht gesehen haben. "Wer sind die dort bei dir?" fragt Esau. Währt die Zeit des Konfliktes
lange, muss davon ausgegangen werden, dass die Menschen und ihre Lebensumstände sich in der
Zwischenzeit geändert haben, sodass man sich kaum noch kennt, was eine Annäherung erschwert. Eine
Versöhnung wird daher wesentlich leichter, wenn sie zeitnah geschieht. Darum schreibt Paulus im
Epheserbrief: "Die Sonne soll über eurem Zorn nicht untergehen".
" … warf sich siebenmal zur Erde nieder, bis er nahe an seinen Bruder herangekommen
war." (Genesis 33,3)
Jakob liefert sich demütig seinem Bruder Esau aus und zwar vollständig, wie die Zahl sieben zum
Ausdruck bringt. Besser kann er in damaliger Zeit seine Schuld nicht zeigen. Versöhnung verlangt
immer ein uneingeschränktes Bekennen des eigenen Versagens. Und das ist mit einem Risiko verbunden.
Jakob weiß eben nicht, ob sein Bruder Esau die Entschuldigung annehmen wird.
Jakob hatte in der Nacht zuvor mit einem Boten Gottes gerungen. Dieser hatte ihm, da er Jakob
nicht besiegen konnte, das Hüftgelenk verletzt, sodass ab diesem Zeitpunkt Jakob hinkte. Einige
jüdische Weise erklären die Großmut des Esaus daher damit, dass Esau einem Versehrten und
Geschlagenen nichts Böses antun konnte.
"Nimm mein Begrüßungsgeschenk an, das man dir überbracht hat." (Genesis 33,11)
Versöhnung "kostet" immer etwas. Jakob muss sich seinem Bruder bedingungslos ausliefern, seinen
Stolz zurücknehmen, auf Rechthaberei verzichten und einen Teil seines Reichtums an Esau abgeben.
Auch bei der Beichte – dem Sakrament der Versöhnung – gibt es eine Verpflichtung zur Buße als
Zeichen der Ernsthaftigkeit der Versöhnung.
Was können wir von Jakob und Esau lernen?
Versöhnung ist ein Prozess, dessen Ergebnis sich hier in der Begegnung von Angesicht zu
Angesicht entscheidet. Wird dieser Prozess zeitnah aufgenommen, so fällt er den Beteiligten
leichter. Versagen muss uneingeschränkt bekannt und das Risiko, dass der Prozess nicht erfolgreich
ist, eingegangen werden. Zeichen, dass diese Versöhnung ernst gemeint ist, sind vertrauensbildend.
Auch nach Jesus muss dem Verzeihen durch Gott die Versöhnung vorausgehen:
" ... geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder/deiner Schwester, dann komm und opfere
deine Gabe." (Matthäus 5,24)
Jakob und Esau gingen nach ihrer Versöhnung getrennte Wege. Neue Auseinandersetzungen sind nicht
bekannt. Echte Versöhnung hat es nur dann gegeben, wenn die Erinnerungen an die alten
Auseinandersetzungen keine Rolle mehr spielen. Dies ist für einen Neuanfang unabdinglich. Das
scheint bei Jakob und Esau der Fall gewesen zu sein.