"Wir danken dir, Gott … Denn inmitten einer Menschheit, die gespalten und zerrissen ist,
erfahren wir, dass du Bereitschaft zur Versöhnung schenkst."
So beten wir bis heute mit einer bedrückenden Aktualität in einem Hochgebet aus dem "Heiligen
Jahr" 1975. Dieses stand unter einem Leitwort, das uns auch heute noch gut täte: "Erneuerung und
Versöhnung".
1975: Der lange und grausame Vietnamkrieg ging zu Ende – die vielfältigen Traumata nicht …
In der katholischen Kirche Deutschlands ging 1975 die Würzburger Synode zu Ende, wo offen und
ehrlich um Positionen gerungen wurde. Im Beschluss "Unsere Hoffnung" heißt es zum Thema Versöhnung:
"Der Glaube an die göttliche Vergebung … führt uns nicht in die Entfremdung von uns selbst. Er
schenkt die Kraft, unserer Schuld und unserem Versagen ins Auge zu sehen … Er macht uns frei."
Genau diese frei machende und Neuanfänge ermöglichende Kraft der Versöhnung gilt es wieder
neu zu entdecken – nicht zuletzt im "Sakrament der Versöhnung" – einem wertvollen Geschenk, das
unbedingt von allem befreit werden muss, was Angst macht.
2022: Ein auf europäischen Boden nicht mehr für möglich gehaltener Krieg hat durch den
militärischen Überfall russischer Truppen auf die Ukraine begonnen – und wir sind in großer Sorge
um die Menschen dort und um eine Eskalation der Gewalt. Versöhnung und Verständigung scheinen weit
weg.
Und die katholische Kirche Deutschlands ist geprägt von einem vielleicht so noch nie
dagewesenen Vertrauensverlust, Mitglieder-verlust und dem Verlust einer Hoffnung, dass notwendige
Veränderungen zeitnah angegangen werden.
Da ist viel Unversöhntes, viel Nicht-verzeihen-können (oder wollen), viel scheinbar
Unüberbrückbares. Umso wichtiger scheint mir die Erinnerung an unsere jüdisch-christlichen
biblischen Wurzeln. Hier finden wir wertvolle, in Worte geronnene Erfahrungen von Menschen auf dem
Weg zu einem Leben "mit versöhntem Herzen":
Zur Versöhnungsbegegnung zwischen den beiden Brüdern Esau und Jakob mit all ihren Facetten
verweise ich auf die Gedanken von Diakon Dr. Schröder in dessen Artikel.
Bewegend zu lesen ist die Versöhnungsbegegnung (in der das Verzeihen der Versöhnung vorangeht)
zwischen Josef und seinen Brüdern, als all seine Emotionen sich in einem lauten Weinen Bahn
brechen. (Genesis 45)
Bis heute ist der Versöhnungstag (Jom Kippur) der höchste jüdische Feiertag. Das Faszinierende:
Das ganze Volk stellt sich vor Gott – niemand kann sich entziehen mit einem "Habe ich nicht
gesehen, gehört, gewusst …" (Levitikus 16)
Versöhnung geht vor Gottesdienst: "Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst und dir dabei
einfällt, dass dein Bruder/deine
Schwester etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar liegen; geh und
versöhne dich zuerst, dann komm und opfere deine Gabe!" (Matthäus 5) Hier wird auch deutlich, warum
"Umkehr" ein wichtiger Teil von Versöhnung ist.
Versöhnen, vergeben, verzeihen sowie lieben sind Geschwister. Jesus sagt zu einer Frau, in der
andere nur eine "Sünderin" sehen: "Deshalb sage ich dir: Ihr sind ihre vielen Sünden vergeben, weil
sie viel geliebt hat. Wem aber nur wenig vergeben wird, der liebt wenig." (Lukas 7)
Wir kennen es aus dem Vater Unser: " … vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren
Schuldigern." – Versöhnung kann keine Einbahnstraße sein. "Und wenn ihr beten wollt und ihr habt
einem anderen etwas vorzuwerfen, dann vergebt ihm, damit auch euer Vater im Himmel euch eure
Verfehlungen vergibt." (Markus 11)
Im 8. Kapitel seines Römerbriefs gibt Paulus uns noch einen entlastenden Hinweis. Er weiß, dass
es menschliche Grenzen gibt: "Soweit es euch möglich ist, haltet mit allen Menschen Frieden." Damit
sagt er aber auch, dass wir das Mögliche auch wirklich versuchen sollten.
Versöhnung – ein wertvolles Geschenk, das wir uns immer wieder gegenseitig machen können und ein
Geschenk Gottes, das wir ihm immer wieder in Erinnerung rufen dürfen wie im "Hochgebet Versöhnung":
"Dein Geist bewegt die Herzen, wenn Feinde wieder miteinander sprechen, Gegner sich die Hände
reichen und Völker einen Weg zueinander suchen. Dein Werk ist es, wenn der Wille zum Frieden den
Streit beendet, Verzeihung den Hass überwindet und Rache der Vergebung weicht."
Pastor Johannes Quirl
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Skulptur 'Versöhnung' an der Versöhnungskapelle, Bernauer Straße, Berlin (Foto: privat)