Warten auf St. Martin, auf Weihnachten, auf Karneval, auf Ostern, auf Geburtstage, auf …
Als Kind habe ich oft an das Jahr 2000 gedacht. Die Zahl hat mich sehr beeindruckt, und ich habe
mir ausgerechnet, dass ich dann, in der fernen Zukunft 36 Jahre alt sein würde. Das erschien mir
sehr weit weg. Ich habe nicht direkt darauf gewartet, aber dieses Jahr war als Markierung immer
präsent.
Inzwischen habe ich natürlich auf den jährlichen Sankt Martinstag gewartet, auf den Nikolaus,
auf Weihnachten, auf Karneval, die verschiedenen Geburtstage, auf Ostern und die ersehnten
Sommerferien, auf die Kartoffelfeuer im Herbst und wieder auf Sankt Martin. So gingen die Jahre mit
Warten dahin, bis zum 18. Geburtstag, endlich erwachsen! Erstaunlich, wie wenig sich damit zunächst
änderte, zumindest im Rückblick: Ich durfte Auto fahren, ich konnte meine Entschuldigungen in der
Schule selbst unterschreiben, und ich durfte natürlich wählen! Aber sonst änderte sich mein Leben
wenig. Ich wartete weiter auf die verschiedenen Feste und vor allem auf das Abitur. Dieses Warten
hat sich gelohnt: endlich frei, keine Schule mehr und eine eigene Bude in einer anderen Stadt.
Manchmal plagte mich das Heimweh, und dann wartete ich auf die Wochenenden, an denen ich die Stadt
verlassen und zu meinen Eltern nach Hause fahren konnte.
Auf die Liebe habe ich lange gewartet, sie kam schließlich auf großen Umwegen, es hat sich
gelohnt. Vor einer Hochzeit
wartet man, obwohl sehr beschäftigt mit den Vorbereitungen, auf den großen Tag.
Das größte Warten war in meinem bisherigen Leben das Warten auf die Geburt meiner Kinder: Die
Zeit dehnte sich, und während der Wehenschmerz zunahm, verlor ich jegliches Zeitgefühl. Zugleich
haben sich kleine Ereignisse während dieser gedehnten Zeit fest in mein Gedächtnis eingebrannt: der
nächtliche kleine Spaziergang, bei dem wir Fledermäuse beobachtet haben, das gedämpfte Licht im
Kreißsaal und die Stimmen der Hebammen. Und das Glück und die Überraschung, als es geschafft
war.
Seitdem habe ich natürlich jedes Jahr wieder Zeit verbracht mit Warten, auf die christlichen
Feste, auf runde Geburtstage, auf die Erfüllung aller Träume, auf Urlaube, Schulabschlüsse, auf
Genesung von Krankheiten, wieder auf Hochzeiten, die Geburt eines Enkelkindes, dass sich endlich
etwas ändert in der Kirche, auf ein Ende von Streitigkeiten im Privaten, auf die Lösung der großen
Probleme der Welt, auf den Beginn eines Konzertes, auf ein Treffen mit Freunden, auf die KVB und
die Deutsche Bahn.
Das klingt, als würde ich immer warten. Aber das stimmt so nicht: Die Zeit ist aufgeteilt in
zahllose Ereignisse, an die ich mich erinnere, aber in der Zwischenzeit passiert das Leben.
Stefanie Manderscheid