Die Selbsthilfegruppe ist für Gerhard K.unverzichtbar.
Schon im Kindergarten und in der Schule habe er sich nicht zugehörig gefühlt, nicht gemocht,
sagt der jetzt Fünfzigjährige. Zwar habe eine Schulfreundin, die er kürzlich traf, das anders
erlebt, aber er fühlte sich so. "Meine Eltern waren sehr mit sich beschäftigt!, sagt er auf die
Frage nach deren Sorge für und um ihn. Viel später im Gespräch kommt die Information, dass er
siebenjährig für ein Jahr in ein Ordensinternat gegeben wurde; da habe er viel Gewalt erfahren und
sich gänzlich ausgeliefert gefühlt.
Mit 12 hatte er den ersten Alkoholrausch, mit 14 hat er angefangen zu kiffen, mit 19 war er
beim Heroin. Er schaffte es – anders als viele andere – trotz der Abhängigkeit, die Schule und eine
Ausbildung abzuschließen. Immer wieder hatte er den Wunsch, aus der Abhängigkeit herauszukommen,
wusste aber nicht wie. In einer Drogenberatungsstelle fand er schließlich einen Flyer, in dem eine
Selbsthilfegruppe vorgestellt wurde. "Ich war so verzweifelt und hoffnungslos, und dann habe ich
mich da auf Anhieb wohlgefühlt. Mit dem, was die anderen sagten, sprachen sie mir aus der Seele, es
war genau das, was ich gefühlt habe." Er schildert sein Leben als sehr anstrengend in dieser Zeit –
er nahm es als ein Doppelleben wahr – die Berufstätigkeit tagsüber und fast allabendlich der Besuch
der Selbsthilfegruppe.
Heute ist Gerhard K. seit sechs Jahren "ganz clean", wie er sagt, zuvor war er schon einmal
fünf Jahre lang trocken. Den zwischenzeitlichen Rückfall erklärt er damit, dass er den Fehler
gemacht habe, sich nicht an das Zwölf-Schritte-Programm der Selbsthilfe zu halten. "Nur Alkohol und
Drogen weglassen, das ist es nicht, man muss sich in seiner Persönlichkeit verändern." Davon ist er
überzeugt. Die Teilnahme und aktive Mitarbeit in der Selbsthilfebewegung NA (Narcotic Anonymus) –
analog zu den AA (Anonyme Alkoholiker) – ist für ihn entscheidend. "Gemeinschaft ist das
Wichtigste, das tröstet, das gibt Halt, da entstehen Beziehungen, Freundschaften." K. nimmt nicht
nur regelmäßig seit vielen Jahren an den Treffen teil, sondern übernimmt im Rahmen einer
Sprecherrolle auch organisatorische Aufgaben. Da muss der Raum hergerichtet werden, er kauft ein,
kocht Kaffee, besorgt Literatur, sucht gerade händeringend nach einem neuen Raum für die Treffen.
Finanziert werden die erforderlichen Ausgaben durch Spenden der Teilnehmenden. Diese
Selbsthilfebewegung ist bundesweit – mit regionalen Strukturen - organisiert und besteht seit den
70er Jahren.
Die Coronazeit ist für ihn selbst und seinen Freundeskreis eine starke Herausforderung
gewesen, einige sind rückfällig geworden, u.a. nach Verlust des Arbeitsplatzes. Die
Gruppenmitglieder versuchen, Kontakt zu halten, aber bei einem Rückfall tauchen die Menschen meist
unter nach K.s Erfahrung. Ein enger Freund von ihm ist in der Coronazeit aufgrund eines Herzleidens
gestorben, das war für ihn besonders hart. Ihn selbst hat in dieser Zeit einmal mehr der Kontakt zu
den Freunden gestärkt und das Gefühl, gebraucht zu werden. Auf die Frage, wie er es schafft, clean
zu bleiben, sagt Gerhard K. "Wir glauben alle an Gott, das ist mehr spirituell, nicht konfessionell
gedacht. Wir sprechen viel über Gott in den meetings – ich bin da seit 20 Jahren, und es ist
täglich ein Wunder, dass wir überlebt haben – wir waren dem Tod näher als dem Leben. Das brennende
Verlangen war mein ständiger Begleiter, das ist nicht mehr da. Das ist ein Wunder, das muss was mit
Gott zu tun haben!"
Der Kontakt zu seinen Eltern (sie wohnen weit entfernt) hat sich gewandelt. "Früher habe ich
alle drei Monate telefoniert und war dann in 30 Sekunden auf Hundert, jetzt telefoniere ich
mehrmals in der Woche und besuche sie regelmäßig."