Alfred Gehrmann im Gespräch mit Cornel Wachter (r.)
Mut hat uns nie gefehlt, weil wir so erzogen sind. Wir waren immer aufgefordert zu handeln. Wir
haben das große Glück gehabt, dass unsere Eltern und unsere Großeltern uns schon in diese Richtung
weniger drängten als vielmehr mitnahmen.
Wenn wir auf der Severinstraße eingekauft haben, dann waren damals auch schon Bettler da, und
da hat mein Vater gesagt: Wenn Du nichts für ihn hast, dann ist auch ein Wort schon ganz gut. So
ein Handeln im Sinne von sozialem Denken und Anpacken war immer schon da. Ich habe also nie
Mutlosigkeit verspürt und bin dadurch sehr entschlussfreudig.
Wo haben Sie Ermutigung empfunden?
Ja, bei mir war es so ähnlich wie bei Pinocchio, der sich, was er auch anstellt, immer wieder
in die Liebe seiner Familie und Freunde zurückbegeben kann. Ich habe gelernt, dass wir unsere
Kinder nicht anketten können, und sie kommen trotzdem immer wieder zurück.
Umgekehrt haben Sie Ihren Vater ermutigt, als es darum ging, dass er über seine
Kriegserinnerungen berichten sollte.
Dass die Alten nicht reden konnten, war kein Wunder bei dem, was sie erlebt hatten.
Sie wollten lieber im Hier und Jetzt ein neues Leben ohne belastende Erinnerungen führen.
Jemand, der obendrein gar nicht in den Krieg gewollt hatte und jetzt seine Erinnerungen mit
sich herumschleppte, konnte sich schon besonders belastet fühlen. Und wenn ich meinen Vater auch
drängte und an ihm zerrte, so kam er doch nie zum Kern der Sache.
Und dann kam 1984 Robert Wilsons Inszenierung von "the CIVIL warS" im Kölner Schauspiel. Da
trat ich als Soldat auf, und auf der Bühne schossen wir uns gegenseitig nieder. In dieser Nacht
1984 löste sich die Zunge meines Vaters. Er fing an, seine Kriegsgeschichte aufzuschreiben, zuerst
unsortiert auf kleinen Zetteln; später hat er dann große Kladden erworben und seine Erinnerung
unter dem Titel "Blut, Tod, Anatomie" aufgeschrieben. So hat Bob Wilson durch die Kraft seiner
Kunst meinem Vater die Zunge gelöst.
Meine Familie gab mir immer den Eindruck, dass mein Handeln richtig sei. Aus dieser
Unterstützung entstand Mut oder besser gesagt Zuversicht. So begleitet sag ich mir jeden Morgen:
Ich mag mich. Das ist vielleicht nicht jedem möglich, aber wir können die Ermutigung suchen und in
der Gemeinschaft mit Gleichgesinnten finden.