Das Bistum ordnet an, jeden Abend um 19.30 Uhr die Kirchenglocken zu läuten. Durch
Facebook-Kommentare bekomme ich mit, dass auch meine Freunde die Glocken hören. So kann ich mich
mit ihnen in Gedanken verbunden fühlen, auch wenn wir uns zur Zeit nicht sehen können.
Ich abonniere diverse schriftliche Impulse, die per Mail eintrudeln. Größtenteils bestelle ich
sie nach und nach wieder ab, weil sie nicht das enthalten, was mir gut tut. Übrig bleibt der
tägliche Impuls eines evangelischen Pfarrers aus dem Rechtsrheinischen. Er enthält Psalm und
Bibeltext zum Tage, mal kombiniert mit einem Bild, mal mit einem Stück Lyrik, mal mit eigenen
Gedanken, aber immer gut auf den Punkt formuliert und nie oberflächlich, sondern immer mit Stoff
zum Nachdenken. Diese Impulse zu lesen tut mir gut.
Doch was ist mit den Sonntagsmessen? Welchen Ersatz kann es dafür geben? Für Fernsehgottesdienst
fühle ich mich ehrlich gesagt noch zu jung. Außerdem: eine fremde Kirche irgendwo in Deutschland?
Wonach ich gerade suche, das ist doch das Vertraute! Gefühlt gerät das ganze Leben aus den Fugen,
es fühlt sich alles seltsam surreal an. Ich möchte Vertrautes und darin ein Stück Sicherheit
finden. Innere Ruhe.
Die heutige Variante des Fernsehgottesdienstes ist der Livestream. In den folgenden Wochen
besuche ich virtuell sehr unterschiedliche Gemeinden, aber alle in meiner Nähe oder durch
Erlebnisse oder Menschen mit mir verbunden. Ich möchte wenigstens innerlich "andocken" können.
Die Qualität ist sehr vielfältig. Technisch sowieso, aber das Verständnis hierfür ist groß, denn
ich sehe, dass sehr viele gezwungen sind, von jetzt auf gleich neue Wege zu beschreiten. Viel
größer sind die inhaltlichen Unterschiede. In manchen Fällen bin ich ehrlich gesagt froh, dass ich
einen Livestream unauffälliger wieder verlassen kann als eine reale Kirche, in anderen Fällen hätte
es gern noch länger dauern dürfen. Dennoch bleibt es gefühlt zunächst nah am Prinzip des
Fernsehgottesdienstes: ich bin Zuschauer bei anderen Leuten.
Erst die Initiative einer Freundin löst diesen Knoten. "Du, wollen wir heute abend gemeinsam
virtuell in den Gottesdienst gehen?" lautet ihre Frage Palmsonntag. Wir entwickeln relativ schnell
unser persönliches Modell, das uns auch durch die gesamte Karwoche tragen wird (mittlerweile ist
klar, dass der Lockdown nicht wie ursprünglich veranschlagt Karfreitag endet): vorher kurz im Chat
einander begrüßen, dann gemeinsam den Gottesdienst mitfeiern, jeder vor seinem Bildschirm, und
danach miteinander ausführlich klönen, so wie wir es auch auf dem Kirchhof getan hätten, allerdings
am Telefon. Besonders berührt mich, dass wir dies sogar in der Osternacht so umsetzen: gemeinsam um
5.00 Uhr den Livestream aus Bickendorf schauen und danach telefonierend in den Sonnenaufgang gehen,
sie in ihrem Veedel, ich in meinem.
Die Fachleute streiten sich medial wirksam darum, inwieweit eine Messe ohne die reale
Anwesenheit der Gläubigen überhaupt Gültigkeit haben kann und ob es neben realer Kommunion auch
geistige Kommunion gibt. Ich lese kopfschüttelnd theologische Spitzfindigkeiten, die ich zwar als
abstrakten Gedankengang durchaus spannend finde, die aber für meine persönliche Glaubensrealität
augenblicklich vor allem eines sind: herzlich irrelevant!
Livestreams sind – im Gegensatz zu Fernsehübertragungen – durchaus keine "Einbahnstraßen",
stelle ich fest. Es gibt überraschend viele kreative Möglichkeiten, die nur virtuell anwesende
Gemeinde mit zu beteiligen, von Mentimeter-Sammlungen über parallel laufende Chats bis hin zum
Einblenden des Tagesevangeliums mit Handynummer des Liturgen, an die Kommentare und Gedanken
geschickt werden können, die dieser dann vor laufender Kamera verliest. In der Zeitung lese ich von
dem Priester, der sich Fotos seiner Gemeinde schicken ließ und diese in den Bänken auslegte, um
sich den Menschen näher fühlen zu können. Noch mehr Interaktionsmöglichkeit bietet Video-Software
wie Zoom, wo via Beakout-Room auch individuelle Einzelsegnungen möglich sind.
Aber ein großes Problem bleibt die Musik. Musik ist für mich unverzichtbarer Bestandteil eines
Gottesdienstes, sowohl zum "Sacken-Lassen" des Gehörten als auch zum aktiven Mittun in Form des
gemeinsamen Singens. Beten ohne zu Musizieren oder zu singen? Unvorstellbar! Mein Chor probt aus
Sicherheitsgründen schon lange nicht mehr und durch die Lektüre von Zeitung und wissenschaftlichen
Veröffentlichungen lerne ich mehr über Aerosole und Strömungstechnik als ich jemals wissen wollte.
Mir wird immer klarer: auf die musikalische, spürbare Gemeinschaft mit anderen werde ich noch lange
verzichten müssen. Das schmerzt sehr!
Immerhin bildet sich bereits Mitte März eine Arbeitsgruppe, die mit dem Projekt
digital-stage.org versucht, eine Software zu
entwickeln, die die zwangsläufig in Übertragungen vorhandenen Latenzen herausrechnen kann, so
dass es mittelfristig möglich sein sollte, diese mit einer Video-Software zu kombinieren und auf
diese Weise wenigstens virtuelles gemeinsames Singen zu ermöglichen. Aber noch ist das
Zukunftsmusik.
Zufällig entdecke ich, dass die Communauté von Taizé (wo zur Zeit ja auch keine Gäste sein
dürfen) jeden Tag ihr Abendgebet live ins Internet streamt. Im Gegensatz zu den
Gottesdienst-Ersatz-Streams versuchen die Brüder gar nicht erst, in irgendeiner Form Interaktion
aufzubauen. Die Kamera wird eingeschaltet, es gibt eine einzige Einstellung, nämlich die Totale auf
den Raum, und dann wird ganz normal wie in Taizé üblich gesungen und gebetet. Ich stelle überrascht
fest, wie sehr gut es mir tut, mich einfach zu Hause mit meiner Kerze hinzusetzen, leise
mitzusingen und mich einfach auf diese Atmosphäre der Ruhe einzulassen.
Um Ostern herum stoße ich auf den Kanal der Kirchenmusik aus St. Agnes. Endlich wieder eine
Orgel in meinem Ohr! Die Literaturauswahl spricht mich an, von Bach bis Debussy ist vieles dabei,
was mir gefällt und ich entdecke darüber auch Neues und manche Kuriosität (z.B. das Stück von Arvo
Pärt, bei dem tatsächlich der Motor der Orgel zwischendurch ausgeschaltet werden muss). Auch diese
Minuten des täglichen Hörens werden wertvolle Minuten.
An vielen Stellen gab es, gerade um Ostern herum, Empfehlungen und Anleitungen für
Hausgottesdienste. "Versammeln Sie sich mit Ihrer Haushaltsgemeinschaft um einen Tisch..."
Allerdings lebe ich (wie übrigens 41% deutschlandweit) allein, d.h. ich versammele mich im
Zweifelsfall mit mir selbst um einen Tisch. Durchaus machbar, aber schwierig, sobald es um das
Erleben von Gemeinschaft geht.
Einmal mit der Nase darauf gestoßen, fällt mir immer mehr auf, an wievielen Stellen kirchliche
Veröffentlichungen selbstverständlich davon ausgehen, dass in einem Haushalt nicht nur zwei
Erwachsene, sondern auch Kinder leben. Angebote für Alleinerziehende,
allein lebende Paare oder eben auch allein lebende Singles haben eher Seltenheitswert. Dass ich
alleine lebe, hat mich nie sonderlich gestört, aber jetzt, wo auch freundschaftliche Kontakte nach
und nach weniger werden (weil Telefonate eben doch kein Ersatz sind für Umarmungen), stelle ich
überrascht fest, wie sich Einsamkeit anfühlt... (Kurz: grauenvoll!)
In dieser Situation stoße ich auf die "Netzgemeinde da_zwischen", ein Projekt des Bistums
Speyer.
Dort habe ich keinerlei innere Verbindung hin, es ist das erste Angebot, mit dem ich ganz neue
Wege gehe. Da_zwischen nutzt die Messenger-Dienste (Facebook und Whatsapp) als
Kommunikationsmittel. Der Messenger-Gottesdienst ist von Samstag- bis Sonntagabend freigeschaltet.
In diesem Zeitraum reagiert ein Bot auf vorgegebene Stichworte und schickt z.B. auf "Christus höre
uns" die nächste Fürbitte. Die Gestaltung ist kreativ, an vielen Stellen gibt es Wahlmöglichkeiten
(z.B. Evangelium vorgelesen von einem bekannten Schauspieler oder als GIF-Animation oder schlicht
als Text zum Selber-Lesen). Da ein Bot ein Automatismus ist, dem es egal ist, wie schnell man das
nächste Stichwort schickt, nehme ich mir die Freiheit, mein eigenes Tempo zu fahren. Und das ist
wirklich pure Freiheit! Eine Möglichkeit, die es im realen Gottesdienst nicht gibt, die aber das
hier genutzte Medium eröffnen kann.
Dinge wie als Aktion eingebaute Spaziergänge sorgen für einen räumlichen Wechsel beim Gebet.
Auch das ist eine Erfahrung von Freiheit, die ich bislang in dieser Form nicht kannte. Immer wieder
berührend finde ich den Schluss-Segen, denn er enthält die persönliche Anrede mit meinem
Namen.
Was mich neben dem Konzept eines Messenger-Gottesdienstes beeindruckt, ist, dass es ein Team
hinter den Kulissen gibt, das Woche für Woche zum persönlichen Gespräch zur Verfügung steht. Vor
jedem Schluss-Segen gibt es die explizite Aufforderung dazu, dieses Angebot zu nutzen, "auch wenn
Du nur übers Wetter reden willst."
Hier werden Online- und Offline-Welt folgerichtig miteinander verbunden und das aufgegriffen,
was menschliches Bedürfnis ist: Kommunikation.
Es ist ein Schwanken zwischen der Suche nach Vertrautem und der Abenteuerlust, Neues zu
entdecken.
Ich spüre eine Entwicklung. Vieles geht (noch?) über persönliche Empfehlung, aber vieles ist
auch (noch?) unentdeckt.
Das Netz macht es auf andere Art als bislang möglich, dass ich mich wirklich als Teil einer
weltumspannenden Kirche fühlen kann, denn es ist viel einfacher als offline möglich, meine Schritte
in neue Richtungen zu lenken. Bislang als unverrückbar wahrgenommene Grenzen weichen auf.
Ich habe Mut fassen und ins kalte Wasser springen müssen. Jetzt heißt es wohl: Schwimmen
lernen...