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Auf der Suche nach Kirche in Corona-Zeiten

Dr. Inga Rapp erzählt von ihren persönlichen Erfahrungen mit Kirche in Corona-Zeiten.

©SilviaBins ©SilviaBins

Anfang März 2020. Tage voll innerer Unruhe. In den Nachrichten gefühlt nur Eilmeldungen, Telefon und Handy bimmeln ständig, das Arbeitsleben strukturiert sich auf Homeoffice um. Das, was wir später als "Lockdown" bezeichnen, beginnt. "Stay at home" lautet die Parole. Zu Hause bleiben, unnötige Kontakte vermeiden und dadurch die Infektionsketten unterbrechen, das ist das Ziel.

 

Auch Gottesdienste entfallen. Der Beschluss hierzu fällt ausgerechnet samstags, so dass ich sonntags schon nicht mehr wie gewohnt zur Messe kann. Dabei sehne ich mich seit Tagen genau danach! Nach einer ganz normalen Sonntagabendmesse in Maternus, "in Ruhe und Raum." Normalerweise hilft mir diese Stunde , um zur Ruhe zu kommen, beten zu können und gestärkt in die neue Woche zu gehen.

Gerade jetzt hätte ich diese Stärkung dringend gebraucht!

 

Normalerweise ist meine Reaktion, wenn etwas nicht wie geplant läuft: tief durchatmen, mir darüber klar werden, was geht und was nicht, und dann auf dieser Basis einen Plan B (und meist auch schon Pläne C und D, je nach Situation) entwickeln. Diesmal ist es anders. Vor allem spielt schlicht Angst eine Rolle. Ich bin tagelang wie gelähmt und muss mich mit viel Energie dazu zwingen, nach möglichen Alternativen zu suchen.

 


Die Kirchen sind zu den üblichen Gottesdienstzeiten dennoch geöffnet. Ich gehe hin, trotz meines schlechten Gewissens ("Stay at home!") – und kehre leider enttäuscht zurück. Für die nächsten Wochen wird das definitiv nicht das Ersatzmittel der Wahl für den entfallenden Sonntagsgottesdienst sein! Noch gehe ich naiverweise davon aus, dass es sich nur um wenige Wochen handeln wird.

   

In der Nachbargemeinde Herz Jesu am Zülpicher Platz wird die "Aktion Lichtzeichen" gestartet. Jeden Abend um 21.15 Uhr fünf Minuten Video-Impuls bei Kerzenlicht. Über Wochen wird mich dieses Ritual begleiten (und nach Ende der Aktion werde ich erstaunt feststellen, dass ich den Tagesabschluss bei Kerzenlicht beibehalten möchte, wenn auch zu anderer – späterer – Uhrzeit). Jeden Tag gestaltet jemand anderes, meist Pastoral- oder Gemeindereferenten aus Köln und dem Umland. Darunter sind auch diverse bekannte und vertraute Gesichter, das tut mir gut.

Das Bistum ordnet an, jeden Abend um 19.30 Uhr die Kirchenglocken zu läuten. Durch Facebook-Kommentare bekomme ich mit, dass auch meine Freunde die Glocken hören. So kann ich mich mit ihnen in Gedanken verbunden fühlen, auch wenn wir uns zur Zeit nicht sehen können.

 

Ich abonniere diverse schriftliche Impulse, die per Mail eintrudeln. Größtenteils bestelle ich sie nach und nach wieder ab, weil sie nicht das enthalten, was mir gut tut. Übrig bleibt der tägliche Impuls eines evangelischen Pfarrers aus dem Rechtsrheinischen. Er enthält Psalm und Bibeltext zum Tage, mal kombiniert mit einem Bild, mal mit einem Stück Lyrik, mal mit eigenen Gedanken, aber immer gut auf den Punkt formuliert und nie oberflächlich, sondern immer mit Stoff zum Nachdenken. Diese Impulse zu lesen tut mir gut.

 

Doch was ist mit den Sonntagsmessen? Welchen Ersatz kann es dafür geben? Für Fernsehgottesdienst fühle ich mich ehrlich gesagt noch zu jung. Außerdem: eine fremde Kirche irgendwo in Deutschland? Wonach ich gerade suche, das ist doch das Vertraute! Gefühlt gerät das ganze Leben aus den Fugen, es fühlt sich alles seltsam surreal an. Ich möchte Vertrautes und darin ein Stück Sicherheit finden. Innere Ruhe.

 

Die heutige Variante des Fernsehgottesdienstes ist der Livestream. In den folgenden Wochen besuche ich virtuell sehr unterschiedliche Gemeinden, aber alle in meiner Nähe oder durch Erlebnisse oder Menschen mit mir verbunden. Ich möchte wenigstens innerlich "andocken" können.

Die Qualität ist sehr vielfältig. Technisch sowieso, aber das Verständnis hierfür ist groß, denn ich sehe, dass sehr viele gezwungen sind, von jetzt auf gleich neue Wege zu beschreiten. Viel größer sind die inhaltlichen Unterschiede. In manchen Fällen bin ich ehrlich gesagt froh, dass ich einen Livestream unauffälliger wieder verlassen kann als eine reale Kirche, in anderen Fällen hätte es gern noch länger dauern dürfen. Dennoch bleibt es gefühlt zunächst nah am Prinzip des Fernsehgottesdienstes: ich bin Zuschauer bei anderen Leuten.

 

Erst die Initiative einer Freundin löst diesen Knoten. "Du, wollen wir heute abend gemeinsam virtuell in den Gottesdienst gehen?" lautet ihre Frage Palmsonntag. Wir entwickeln relativ schnell unser persönliches Modell, das uns auch durch die gesamte Karwoche tragen wird (mittlerweile ist klar, dass der Lockdown nicht wie ursprünglich veranschlagt Karfreitag endet): vorher kurz im Chat einander begrüßen, dann gemeinsam den Gottesdienst mitfeiern, jeder vor seinem Bildschirm, und danach miteinander ausführlich klönen, so wie wir es auch auf dem Kirchhof getan hätten, allerdings am Telefon. Besonders berührt mich, dass wir dies sogar in der Osternacht so umsetzen: gemeinsam um 5.00 Uhr den Livestream aus Bickendorf schauen und danach telefonierend in den Sonnenaufgang gehen, sie in ihrem Veedel, ich in meinem.

 

Die Fachleute streiten sich medial wirksam darum, inwieweit eine Messe ohne die reale Anwesenheit der Gläubigen überhaupt Gültigkeit haben kann und ob es neben realer Kommunion auch geistige Kommunion gibt. Ich lese kopfschüttelnd theologische Spitzfindigkeiten, die ich zwar als abstrakten Gedankengang durchaus spannend finde, die aber für meine persönliche Glaubensrealität augenblicklich vor allem eines sind: herzlich irrelevant!

 

Livestreams sind – im Gegensatz zu Fernsehübertragungen – durchaus keine "Einbahnstraßen", stelle ich fest. Es gibt überraschend viele kreative Möglichkeiten, die nur virtuell anwesende Gemeinde mit zu beteiligen, von Mentimeter-Sammlungen über parallel laufende Chats bis hin zum Einblenden des Tagesevangeliums mit Handynummer des Liturgen, an die Kommentare und Gedanken geschickt werden können, die dieser dann vor laufender Kamera verliest. In der Zeitung lese ich von dem Priester, der sich Fotos seiner Gemeinde schicken ließ und diese in den Bänken auslegte, um sich den Menschen näher fühlen zu können. Noch mehr Interaktionsmöglichkeit bietet Video-Software wie Zoom, wo via Beakout-Room auch individuelle Einzelsegnungen möglich sind.

 

Aber ein großes Problem bleibt die Musik. Musik ist für mich unverzichtbarer Bestandteil eines Gottesdienstes, sowohl zum "Sacken-Lassen" des Gehörten als auch zum aktiven Mittun in Form des gemeinsamen Singens. Beten ohne zu Musizieren oder zu singen? Unvorstellbar! Mein Chor probt aus Sicherheitsgründen schon lange nicht mehr und durch die Lektüre von Zeitung und wissenschaftlichen Veröffentlichungen lerne ich mehr über Aerosole und Strömungstechnik als ich jemals wissen wollte. Mir wird immer klarer: auf die musikalische, spürbare Gemeinschaft mit anderen werde ich noch lange verzichten müssen. Das schmerzt sehr!

 

Immerhin bildet sich bereits Mitte März eine Arbeitsgruppe, die mit dem Projekt digital-stage.org versucht, eine Software zu

entwickeln, die die zwangsläufig in Übertragungen vorhandenen Latenzen herausrechnen kann, so dass es mittelfristig möglich sein sollte, diese mit einer Video-Software zu kombinieren und auf diese Weise wenigstens virtuelles gemeinsames Singen zu ermöglichen. Aber noch ist das Zukunftsmusik.

 

Zufällig entdecke ich, dass die Communauté von Taizé (wo zur Zeit ja auch keine Gäste sein dürfen) jeden Tag ihr Abendgebet live ins Internet streamt. Im Gegensatz zu den Gottesdienst-Ersatz-Streams versuchen die Brüder gar nicht erst, in irgendeiner Form Interaktion aufzubauen. Die Kamera wird eingeschaltet, es gibt eine einzige Einstellung, nämlich die Totale auf den Raum, und dann wird ganz normal wie in Taizé üblich gesungen und gebetet. Ich stelle überrascht fest, wie sehr gut es mir tut, mich einfach zu Hause mit meiner Kerze hinzusetzen, leise mitzusingen und mich einfach auf diese Atmosphäre der Ruhe einzulassen.

 

Um Ostern herum stoße ich auf den Kanal der Kirchenmusik aus St. Agnes. Endlich wieder eine Orgel in meinem Ohr! Die Literaturauswahl spricht mich an, von Bach bis Debussy ist vieles dabei, was mir gefällt und ich entdecke darüber auch Neues und manche Kuriosität (z.B. das Stück von Arvo Pärt, bei dem tatsächlich der Motor der Orgel zwischendurch ausgeschaltet werden muss). Auch diese Minuten des täglichen Hörens werden wertvolle Minuten.

 

An vielen Stellen gab es, gerade um Ostern herum, Empfehlungen und Anleitungen für Hausgottesdienste. "Versammeln Sie sich mit Ihrer Haushaltsgemeinschaft um einen Tisch..." Allerdings lebe ich (wie übrigens 41% deutschlandweit) allein, d.h. ich versammele mich im Zweifelsfall mit mir selbst um einen Tisch. Durchaus machbar, aber schwierig, sobald es um das Erleben von Gemeinschaft geht.

 

Einmal mit der Nase darauf gestoßen, fällt mir immer mehr auf, an wievielen Stellen kirchliche Veröffentlichungen selbstverständlich davon ausgehen, dass in einem Haushalt nicht nur zwei Erwachsene, sondern auch Kinder leben. Angebote für Alleinerziehende,

allein lebende Paare oder eben auch allein lebende Singles haben eher Seltenheitswert. Dass ich alleine lebe, hat mich nie sonderlich gestört, aber jetzt, wo auch freundschaftliche Kontakte nach und nach weniger werden (weil Telefonate eben doch kein Ersatz sind für Umarmungen), stelle ich überrascht fest, wie sich Einsamkeit anfühlt... (Kurz: grauenvoll!)

 

In dieser Situation stoße ich auf die "Netzgemeinde da_zwischen", ein Projekt des Bistums Speyer.

Dort habe ich keinerlei innere Verbindung hin, es ist das erste Angebot, mit dem ich ganz neue Wege gehe. Da_zwischen nutzt die Messenger-Dienste (Facebook und Whatsapp) als Kommunikationsmittel. Der Messenger-Gottesdienst ist von Samstag- bis Sonntagabend freigeschaltet. In diesem Zeitraum reagiert ein Bot auf vorgegebene Stichworte und schickt z.B. auf "Christus höre uns" die nächste Fürbitte. Die Gestaltung ist kreativ, an vielen Stellen gibt es Wahlmöglichkeiten (z.B. Evangelium vorgelesen von einem bekannten Schauspieler oder als GIF-Animation oder schlicht als Text zum Selber-Lesen). Da ein Bot ein Automatismus ist, dem es egal ist, wie schnell man das nächste Stichwort schickt, nehme ich mir die Freiheit, mein eigenes Tempo zu fahren. Und das ist wirklich pure Freiheit! Eine Möglichkeit, die es im realen Gottesdienst nicht gibt, die aber das hier genutzte Medium eröffnen kann.

Dinge wie als Aktion eingebaute Spaziergänge sorgen für einen räumlichen Wechsel beim Gebet. Auch das ist eine Erfahrung von Freiheit, die ich bislang in dieser Form nicht kannte. Immer wieder berührend finde ich den Schluss-Segen, denn er enthält die persönliche Anrede mit meinem Namen.

 

Was mich neben dem Konzept eines Messenger-Gottesdienstes beeindruckt, ist, dass es ein Team hinter den Kulissen gibt, das Woche für Woche zum persönlichen Gespräch zur Verfügung steht. Vor jedem Schluss-Segen gibt es die explizite Aufforderung dazu, dieses Angebot zu nutzen, "auch wenn Du nur übers Wetter reden willst."

Hier werden Online- und Offline-Welt folgerichtig miteinander verbunden und das aufgegriffen, was menschliches Bedürfnis ist: Kommunikation.

 

Es ist ein Schwanken zwischen der Suche nach Vertrautem und der Abenteuerlust, Neues zu entdecken.

Ich spüre eine Entwicklung. Vieles geht (noch?) über persönliche Empfehlung, aber vieles ist auch (noch?) unentdeckt.

Das Netz macht es auf andere Art als bislang möglich, dass ich mich wirklich als Teil einer weltumspannenden Kirche fühlen kann, denn es ist viel einfacher als offline möglich, meine Schritte in neue Richtungen zu lenken. Bislang als unverrückbar wahrgenommene Grenzen weichen auf.

 

Ich habe Mut fassen und ins kalte Wasser springen müssen. Jetzt heißt es wohl: Schwimmen lernen...

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