Von Wunderheilerinnen, Gesund-Betern und dem heiligen Antonius
Ob die Silberzwiebeln helfen?
Als Kind plagten mich von Zeit zu Zeit unerklärliche heftige Kopfschmerzen. Wenn mich dieses
Kopfschmerz-Ungeheuer packte, litt ich sehr: Ich sah nur noch schlecht, alle Geräusche und alle
Gerüche wurden unerträglich, mir wurde übel und ich musste mich hinlegen.
Nur durch Schlaf konnte ich dem Ungeheuer entfliehen. Wenn ich dann aufwachte, war alles
wieder gut, ich fühlte mich wie neugeboren.
Meine Eltern waren natürlich alarmiert: Sie konsultierten unseren Hausarzt, der mir aber auch
nicht helfen konnte. Er deutete an, dass ich mir die Schmerzen möglicherweise nur einbilde, dass es
aber auch daran liegen könnte, dass ich keine Butter essen wollte. Ich hasste Butter, aber nach
dieser Diagnose zwang ich mich eine Weile lang, meine Brote mit Butter zu essen. Meinen Ekel davor
bekämpfte ich mit sauren Silberzwiebeln, was auch wirklich half. Die Säure verdeckte den Geschmack
der Butter komplett. Aber die Kopfschmerzattacken hatte ich weiterhin! Meine Eltern fuhren mit mir
zu einer Neurologin in die Nachbarstadt, mein Kopf wurde dort gründlich untersucht, alles schien in
Ordnung zu sein. Aber die gelegentlichen heftigen Attacken kamen wieder.
Inzwischen waren meine Eltern ratlos: Von einer befreundeten Familie hatten sie von einem
Gesund-Beter gehört, der vielen Menschen geholfen habe, unter anderem der Freundin meiner Eltern.
Ich erinnere mich noch sehr deutlich an das ernste Gespräch, das meine Eltern mit mir führten: Wie
immer bei dieser Art von Gespräch, saßen wir am Küchentisch. Sie erzählten mir von dem Gesundbeter
im Westerwald, zu dem sie mit mir fahren würden. Meine Eltern waren eigentlich aktive Katholiken,
aber sie waren auch verzweifelt genug, um den mysteriösen Wunderheiler aufzusuchen. Ich hatte
sofort das Wort Aberglaube im Kopf, und das Wort Westerwald klang für mich auch nicht gerade
vertrauenerweckend. Ich musste an den Wald denken, in dem sich Hänsel und Gretel verirrt haben.
Jedenfalls fuhren wir dorthin. Der Mann wohnte in einem kleinen Haus mit einer sehr steilen
Treppe. Auf dieser Treppe saßen bei unserer Ankunft sehr viele schweigende Menschen, die alle zu
dem Wunderheiler wollten. Wir reihten uns in die Schlange ein und schwiegen gemeinsam. Nach einigen
Stunden wurden wir vorgelassen. Der Mann war sehr alt, sehr klein und offensichtlich halbseitig
gelähmt. Er hatte weiße Haare, wenig Zähne und saß unbeweglich in seinem Sessel. Meine Mutter
erzählte ihm von meinen Kopfschmerzen. Da legte er seine gesunde Hand auf meinen Kopf, murmelte
leise einige Worte und schon konnten wir wieder gehen.
Dieses Erlebnis hat mich sehr beeindruckt, besonders, weil die Kopfschmerzen tatsächlich für
eine Weile weg waren. Später erfuhren wir, dass es sich bei meinem Leiden um Migräne handelte, die
Kopfschmerzen, unter denen auch Pünktchens Mutter in "Pünktchen und Anton" leidet und die Erich
Kästner als "Kopfschmerzen, wenn man gar keine Kopfschmerzen hat" beschreibt.
Interessant an der ganzen Geschichte ist für mich aus heutiger Sicht, wie sehr sich die
Glaubensebenen in meiner Kindheit vermischt haben: In nahezu jedem Dorf gab es damals eine
sogenannte Warzen-weg-Beterin. Hatte man eine störende Warze, dann ging man zu ihr und die Warzen
wurden weggebetet. Nahezu alle Menschen in meiner Umgebung glaubten an ihre Heilkraft, waren
gleichzeitig aber auch katholisch. Deshalb kamen auch die Heiligen zum Einsatz: Hatte man etwas
verloren, dann rief man den heiligen Antonius zu Hilfe: Der Ausruf "Antonius flück, flück, flück,
maach ding Meisterstück", häufig genutzt von der Großmutter meines Mannes, ist in unserer Familie
legendär.
Übrigens plagt mich das Migräne-Ungeheuer noch heute von Zeit zu Zeit und ich weiß inzwischen
auch, dass Warzen auch ohne Gebete kommen und gehen. Auch über die Wirkung von Placebos weiß ich
Bescheid. Aber ich freue mich jedes Mal, wenn ich jemanden sehe, der eine Kerze vor dem Heiligen
Antonius in der Severinskirche anzündet.
Stefanie Manderscheid