Vom Wunder der Einzigartigkeit
Prof. Dr. Juliette d.M. ist als Evolutionsgenetikerin viel durch die Welt gekommen, bevor ihre wissenschaftliche Arbeit sie nach Köln geführt hat. Sie lebt in unserer Gemeinde, ist verheiratet und hat drei Kinder. Alfred Gehrmann sprach mit ihr über das Verhältnis zwischen Wunder und Wissenschaft.
Frau d. M., können Sie Ihr Arbeitsfeld kurz beschreiben?
Ich untersuche in der Pflanzenwelt genetische Variationen, die unter natürlichen Bedingungen
entstehen, etwa bei der Anpassung an sich verändernde Umweltbedingungen. Da viele Veränderungen vom
Zufall bestimmt werden, ist es nicht leicht, Prognosen zu erstellen. Entwicklungen lassen sich zwar
im Durchschnitt vorhersagen, selten aber im Detail. Viele der individuellen Ähnlichkeiten und
Veränderungen in der Nachkommenschaft bleiben dem Zufall überlassen.
Gibt es heute weniger Wunder, weil es mehr Forschung gibt?
Manche Leute sprechen z. B. immer noch vom Wunder des Lebens, wenn ein Samen keimt. Das
scheint mir aber eher intellektuelle Bequemlichkeit zu sein, denn da hat bisher der Wunderglaube
unsere Wissenslücken gefüllt. Je mehr wir also wissen, umso weniger glauben wir an
Wunder.
Ist immer noch Platz für das Wunder, wenn die Wissenschaft Gründe dafür
identifiziert?
Ja, denn die religiöse Definition des Wunders ist besser als der naive Wunderglaube. Sie sagt
nämlich, dass bei einem Wunder etwas geschieht, das du selber nicht kontrollierst. Es transformiert
den Menschen, und danach hat das Leben ein anderes Licht, einen anderen Geschmack. Diese
Transformation wird wunderbarer dadurch, dass sie ansteckend wirkt und auch andere
transformiert.
Können wir eines Tages auch die Ursachen für das, was wir jetzt Wunder nennen,
wissenschaftlich abbilden?
Ich glaube, es dauert wirklich lange, bis alle Ursachen geklärt sind. Neue Fragen können
gestellt und alte Fragen können neu erforscht werden. Der Forschungsgewinn besteht darin, immer
weiter forschen zu können. Wenn wir weiter Wunder in der Welt sehen wollen, müssen wir sie nicht in
den Dingen suchen, sondern in ihrer Wirkung auf die Menschen. Das kann die Wissenschaft nicht
tun.
In der Bibel gibt es nach der Auferstehung die Situation, dass Thomas nicht glaubt, den
auferstandenen Jesus vor sich zu haben. Er will sehen und anfassen. Ist der heilige Thomas ein
Prototyp des kritischen Wissenschaftlers?
Nein, ich habe Thomas nie als Wissenschaftler gesehen, denn der Wissenschaftler ist kein
Skeptiker, sondern jemand, der hoffnungsvoll ist und Mut zum Kontakt mit der Realität hat. Er
stellt nicht andere in Frage, sondern sein eigenes Denken. Thomas erkennt die Wirkung von Jesus
nicht und beschränkt sich auf eine einzige Art und Weise der Wahrnehmung.
Der christliche Glaube und die Wissenschaft sind verbunden in der Hoffnung, dass sich ein
Problem, egal wie komplex es ist, kleiner machen lässt. Beide vereint der Mut zur Wahrheit und die
Bereitschaft, aufeinander zu hören, um dadurch gemeinsam zum Ziel zu kommen. Beiden gemeinsam ist
auch das Konzept der Lehre: Der Nachwuchs wird ausgebildet und bekommt zugleich Raum für freies
Denken. Wenn unsere Nachwuchswissenschaftler neue Wege gehen und erstaunliche Dinge erfinden, ist
das für mich wie ein Wunder.
Wenn die Kirche einen Menschen heilig spricht, dann muss ein Wunder vorliegen, meist ein
Heilungswunder, das von Wissenschaftler*innen geprüft und als unerklärlich befunden wird. Welche
Maßstäbe würden Sie da als Gutachterin anlegen?
Ich würde vor allem überprüfen, ob keine Manipulation vorliegt. Ansonsten würde ich mir eher
ansehen, was diese Person bewirkt hat, und welche Spuren sie in ihrem Umfeld hinterlassen
hat.
An welcher Stelle hören Sie auf zu forschen und überlassen die weitere Erklärung eines
Phänomens der Glaubenskraft?
Ich kann alles untersuchen, was messbar ist. Wenn sich ein Phänomen im Versuch wiederholen
oder simulieren lässt, dann ist es wissenschaftlich abgesichert. Das wahre Wunder ist, wenn
Einzigartigkeit entsteht, und darauf hat die Wissenschaft keinen Zugriff.