Scheuklappen ablegen
Wo bleibt das Wunder heute? Wo hat es sich versteckt?
Verstand und Naturgesetze haben uns die Wunder der Schrift genommen. Doch Verstand und
Theologie haben sie auch neu entdeckt, haben eine Tiefe aufgeschlossen, an die wir nicht gedacht
hätten. Da ist also einer, der über den Tod und die schrecklichsten Tiefen hinweggehen kann: Da
geht einer über das Wasser, da können Menschen aus fünf kleinen Broten eine Unmenge
übriggebliebener Stücklein machen – durch Teilen. Es hat diese Wunder also nie so gegeben, wie wir
sie als Kinder geglaubt haben. Gut, verstanden! Aber wo sind die Wunder heute? Weinende
Muttergottesfiguren und blutende Hostien finden sich in einem bigotten Winkel des Glaubens zuhauf.
Doch all diese „Wunder“ haben sich als Betrug herausgestellt.
Da findet man im Nachlass eines stigmatisierten Menschen Apothekerrechnungen über die
Lieferung größerer Mengen ätzender Substanzen, mit denen man sich wunderbare Wunden beibringen.
kann. Einer anderen Heiligen, die angab, sich nur von der täglichen Hostie zu ernähren, wurde nach
dem Tod Fettleibigkeit attestiert.
Seit wann haben Hostien so viele Kalorien? Da muss doch noch was anderes gewesen sein.
Schlimmer aber noch als der Glaube an diese "Wunder" ist der Glaube an einen Gott, der solche
Wunder wirkt. Welche Verzwergung Gottes, der nach den klaren, lauten und eindeutigen Worten Jesu
und der Propheten, noch solche "Zirkusnummern" nötig haben soll, um zu den Menschen zu sprechen.
Ähnlich unsinnige Wunder forderte der Versucher von Jesus, vom Tempel herabzuspringen, aus Steinen
Brot zu machen. Jesus lehnte das alles ab.
Aber wohin zielen denn die Wunder, die die Evangelien erzählen? Da geht es immer um die
Befreiung der Menschen von Krankheit, Not und Angst. Sie sprechen von der Macht Jesu über den Tod
(Auferweckung des Lazarus und Gang über das Wasser), von der Heilung, der Ganz-Werdung der
Menschen. Es sind keine Zirkusnummern, die nur ein Staunen hervorrufen wollen, sondern sie haben
eine klare Aussage:
Befreiung und Heilung der Menschen Befreiung von Not und Krankheit. Alles andere ist Unsinn.
Aber gibt es heute noch Wunder? Wunder, die die Naturgesetze aufheben, gibt es nicht und hat
es nie gegeben. Die Menschen leben ja meistens mit einem Tunnelblick oder mit Scheuklappen, sie
sehen nur das, was sie immer schon gesehen haben. Und wenn es geschieht, dass die Scheuklappen
fallen, dann können wir die Wunder der Schöpfung erfahren, wir dürfen uns über so viele wundern und
freuen.
Ich werde nie vergessen – es war auf einem Wanderweg durch die französischen Alpen – am
Vorabend hatte ich im Wanderführer gelesen: "Heute geht es zum Mont Blanc". Aber, der war nirgends
zu sehen. Da macht der Weg eine kräftige Kurve – und ich stehe vor einem riesigen weißen Schnee-
und Eismassiv. Stehenbleiben, Atem anhalten, wundern. So was hatte ich noch nicht gesehen. Für mich
ein Wunder – freilich nicht für den, der täglich diesen Weg geht oder den Mont Blanc vor dem
Fenster hat. Das Neue, das Unvermutete, das Unverfügbare, das in meine Welt einbricht – das sind
für mich Wunder.
Der Blick ins Winzige, Atomare, der noch kein Ende gefunden hat, sondern immer Neues entdeckt.
Der Blick in den Kosmos: Schönheiten und Rätsel ohne Ende? Der Blick auf die Schönheit der
Landschaften, der Pflanzen und der Menschen? Diese Wunder zeigen uns eine Unendlichkeit, die wir
unmöglich erfassen und begreifen können. All das kann uns die Kleinheit und zugleich die Größe und
Einmaligkeit des Menschen, aber auch die Größe und die unendliche Phantasie und Schöpfermacht
Gottes zeigen, um es fromm auszudrücken.
Was uns heute ans Wundern bringt, kann nur etwas Unerreichtes oder Unerreichbares sein, fern
meines Wissens und außerhalb meiner Erfahrungen. Freilich muss ich die Scheuklappen ablegen und
ohne Angst und mit Neugier in die Welt hineingehen.
Johannes Krautkrämer
Leseempfehlung:
Hartmut Rosa „Unverfügbarkeit“,
Residenz Verlag, 2019 Wien