Martin und sein Vater sind trotz des großen Altersunterschiedes eng verbunden
M. Ricking:
Wie wichtig war in der Kinderzeit Deine Beziehung zu Deinen Geschwistern?
Heine v.A.: Ob das wichtig war – ich weiß es nicht; es war einfach für mich
selbstverständlich. Ich konnte mir nicht vorstellen, Einzelkind zu sein; wir waren stolz darauf,
mit vielen Geschwistern aufzuwachsen. Wir waren nach dem Krieg zunächst ziemlich arm, mein Vater
war häufig arbeitslos. Er schlug sich als einfacher kaufmännischer Angestellter durch (später
Offizier bei der Bundeswehr). Sonntags gab es nach dem sparsamen Mittagessen den berühmten
"Sonntagsspaziergang"; das war für uns Kinder oft qualvoll – wir mussten uns alle
disziplinieren.
Mit wie vielen Geschwistern bist Du aufgewachsen?
Ich habe fünf Geschwister. Ich bin der Drittälteste. Zwei Schwestern sind vor mir, zwei
Schwestern und ein Bruder kommen nach mir. Als ältester Junge war ich der Stammhalter. Ich durfte
den Namen weitergeben, auf den wir immer sehr stolz waren – stolz darauf, eine "Kleinadelsfamilie"
zu sein.
Wir lebten in einer Arbeitersiedlung in einer kleinen Dreizimmerwohnung. Alle sechs Kinder
schliefen in selbstgezimmerten Betten, die oft quietschten. Ich war ein sehr unruhiges Kind;
manchmal bin ich im Treppenhaus aufgewacht, bin wohl schlafgewandelt.
War das Verhältnis zu den Schwestern anders als das zum Bruder?
Es gab zwei große Bündnisse: die drei Ältesten und die drei Jüngsten; für meine großen
Schwestern fungierte ich als eine Art Bodyguard, ich begleitete sie, wenn sie in Ferien
fuhren.
Du warst in der Rolle des großen Bruders, obwohl deine beiden Schwestern älter
waren?
Ja, das war einerseits problematisch ob meines jungen Alters, und andererseits war ich stolz
darauf, für die Schwestern so wichtig zu sein.
Mit Gudrun war ich besonders verbunden. Mechthild ging mit 16 Jahren nach London als
Au-pair-Mädchen. So waren wir dann zu fünf Geschwistern. Zu dieser Zeit – ich war 14 – zogen wir
von Krefeld nach Köln. Ich besuchte das Friedrich-Wilhelm-Gymnasium, damals ein reines
Jungengymnasium. Meiner Mutter war das wichtig, weil ich in preußischer Tradition "groß" werden
sollte. Ich habe mich dort sehr wohl gefühlt.
Ist Deine Schwester Gudrun auch mit nach Köln gezogen?
Nein, sie lebte bei Bekannten in Krefeld, damit sie dort die Schule beenden und das Abitur
machen konnte. Meine älteste Schwester Mechthild durfte kein Abitur machen, weil die Eltern dies
nicht finanzieren konnten. Das ist für sie noch heute schwierig, wenngleich Mechthild erfolgreich
war; sie ist als Abgeordnete ins Europaparlament gewählt worden und lebt in der Nähe von
Brüssel.
Was bedeutete dieser frühe Weggang der älteren Schwestern für die
Geschwisterbeziehung?
Mechthild hatte sich ja schon sehr früh nach England aufgemacht, und als Gudrun zum Studium
nach Bonn ging, entstand ein neues, sehr enges Verhältnis zu ihr. Es gab das schon vorher, aber es
wurde durch ihren Weggang noch intensiver. Ich unterstützte sie, wo ich konnte. Sie heiratete
später ihren westfälischen/bergischen Freund, mit dem ich zunächst sehr vertraut war, aber leider
zerbrach unser Verhältnis an diversen Streitfragen. Das stand natürlich auch zwischen mir und
meiner Schwester. Mittlerweile ist sie verwitwet. Und wir beide haben wieder unser altes gutes
Miteinander. Sie hat den Anschluss an ihre Geschwister gesucht.
Gibt es einen Unterschied im Verhältnis zu den Geschwistern nach "oben" und nach
"unten"?
Ja, ganz klar, meine Beziehung zu meinen beiden älteren Schwestern, und hier besonders zu
Gudrun war immer besonders intensiv. Mit zunehmendem Alter ist auch der Kontakt zur jüngeren
Schwester Claudia stärker geworden. Wir sind wieder mehr zusammengewachsen. Sie lebt in Berlin und
Köln; aber mittlerweile mit Schwerpunkt hier in Köln.
Haben Eure Eltern Unterschiede gemacht in der Behandlung der Kinder? Hattest Du als
ältester Junge Vorteile?
Den Mädchen gegenüber auf jeden Fall. Obwohl ich immer ein schlechter Schüler war, musste ich
das Gymnasium besuchen und beenden, aber sonst wurde mir nichts vorgegeben. Der Weg ins Studium war
eine völlig freie Entscheidung von mir.
Haben Deine Eltern Euch eher liberal erzogen?
Letztendlich ja, zumindest was den Bereich der Bildung angeht. Ansonsten war mein Vater sehr
streng in seinen Vorgaben uns Kindern gegenüber. Er nahm auch schon mal die Reitpeitsche zur Hand
(die er als ehemaliger Offizier noch besaß – und irgendwann später verschwinden ließ); was dann
aber fast ausschließlich meine Person betraf. Meine Schwestern nahmen dann Anteil. Mein jüngerer
Bruder war von solchen Maßnahmen nicht betroffen.
Haben die vielen gemeinsamen Erinnerungen Euer geschwisterliches Band gestärkt?
Ja, das ist so. Sicher haben wir im Erwachsenenalter erst einmal alle unseren Weg gesucht.
Diese individuellen Wege haben unsere Beziehungen näher oder ferner werden lassen. Mit zunehmendem
Alter haben wir unsere Beziehungen neu definiert und uns neu gefunden. Dafür bin ich sehr dankbar.
Meine geschwisterliche Familie erlebe ich als Bereicherung mit allen Höhen und Tiefen, die uns
durch die letzten Jahrzehnte begleitet haben.