Für die meisten Menschen sind Geschwister Begleiter/innen durch das ganze Leben – am Anfang
nahe, im Laufe der Zeit zunehmend auf eigenen und verschiedenen Wegen. Wer mit seinen Geschwistern
darüber spricht, wie sie Kindheit und Jugend erlebt haben, lernt sie und besonders sich selbst
besser kennen. Steffen H. hat diesen Austausch immer wieder gesucht, Fragen gestellt, von denen
etliche noch offen sind. Mit ihm sprach Alfred Gehrmann.
Anlässlich des 90. Geburtstages seiner Schwester wollte Steffen H. einen lange gehegten Plan
umsetzen: Er wollte sich mit dieser Schwester und dem noch lebenden Bruder einmal an einen Tisch
setzen, um gegenseitig zu erzählen, was denn Geschwisterlichkeit für jede und jeden Einzelnen
bedeutet habe und noch bedeute – aus der Perspektive der älteren Geschwister ebenso wie aus seiner
Perspektive, nämlich der des Nachkömmlings.
Aus so einem Gespräch, da ist sich H. sicher, wäre ein Buch geworden, in dem Menschen
berichten, die ihr Erwachsenwerden im Krieg aus ganz unterschiedlichen Perspektiven erlebt haben.
Für H. sind nämlich bis heute viele Fragen unbeantwortet. Das beginnt bei seiner Geburt: Wie
erlebten die elf, dreizehn und sechzehn Jahre älteren Geschwister die Geburt des Nachkömmlings im
Kriegsjahr 1942? Von seinem eigenen Erleben her hatte er nicht viel mit seinen Geschwistern
gemeinsam, sie waren ja keine "Spielgeschwister". Ihren Eintritt in die Welt der Erwachsenen nach
dem Krieg hat er mit Bewunderung beobachtet.
H. möchte beispielsweise auch erfahren, welchen Blick die Geschwister auf die Eltern hatten.
Hier nimmt er insbesondere die Zeit des Nationalsozialismus in den Blick: Welche Haltung hatten die
Eltern? Was wussten sie? Wie waren sie beteiligt? Wie eng ins System war der Vater eingebunden, dem
es immer wieder gelang, auch unter widrigen Umständen bei der Familie zu sein?
Auf die Flucht von Breslau nach Westfalen ist H. mit seiner Mutter und der um 13 Jahre
älteren Schwester gegangen. Hier stellt sich für ihn die Frage, wie die beiden Frauen durch das
Chaos des Krieges und der Flucht hindurchgekommen sind, und was er von der Schwester über sein
eigenes Schicksal als Kleinkind erfahren kann.
Im Erlebnis der Flucht und der Nachkriegszeit liegt für H. die Tatsache begründet, dass er
von allen Geschwistern zu seiner Schwester das engste Verhältnis hat. Im Nachhinein beschreibt er
ihre Rolle als die einer "Vize-Mutter", die ihn beschützt und begleitet hat. So fuhr sie den
Grundschüler auf dem Gepäckträger ihres Fahrrades zur Schule, und das besondere
Vertrauensverhältnis zeigte sich auch, als er mit zehn Jahren der Babysitter ihres ersten Kindes
wurde. Bei ihm selbst übernahmen die älteren Brüder auch gelegentlich erzieherische Aufgaben, wenn
es etwa um die Hausaufgaben ging. Das besondere geschwisterliche Verhältnis hat aber nicht zu einer
Ablösung von Vater und Mutter geführt, sondern die Eltern-Kind-Beziehung ergänzt.
Ähnlich wie auch bei den Eltern hat H. bei den älteren Brüdern keine klare Positionierung
erkennen können, wenn es um die Bewertung der nationalsozialistischen Erziehung geht. Beide Brüder
hatten immerhin eine Nationalpolitische Erziehungsanstalt besucht, und er fragt sich, ob das auch
sein Weg gewesen wäre, wenn die Geschichte einen anderen Verlauf genommen hätte.
H's Plan eines gemeinsamen Gesprächs am 90. Geburtstag der Schwester ließ sich dann nicht
realisieren, doch möchte er die vor ihm liegende Lebenszeit weiter dazu nutzen, immer wieder auf
diese lebensbegleitenden Fragen zurückzukommen.