Als Kind hätte ich gerne mehr Geschwister gehabt. Ich wünschte mir eine "richtige" Schwester,
eine, mit der ich alles hätte teilen können, die sich mir anvertraut und mit der ich Geheimnisse
hätte haben können.
Meine Schwester ist anders. Sie hat – sobald sie sich ausdrücken konnte – jeglichen
Körperkontakt abgelehnt. Nachts, wenn sie schlief und ich neben ihr im Kinderzimmer lag,
streichelte ich heimlich ihre Hand, um sie wenigstens so ein bisschen zu spüren. Als ich vier Jahre
alt war, hatte ich meine sechsjährige Schwester körperlich eingeholt. Mit zehn Jahren war ich
deutlich größer. Meine Eltern waren immer in Sorge, was aus ihr werden würde, ob sie ihr Leben
meistern könne. Gründe für ihr Verhalten ließen sich medizinisch nicht klären. Keine klare
Diagnose, überall nur Fragezeichen.
Klein ist meine Schwester, zurückgezogen, in sich gekehrt. Sie ist kontaktarm und im Alltag
unpraktisch. Sie sammelt alles, kann nicht für sich alleine sorgen. Später hieß es
entwicklungsverzögert, verhaltensauffällig. Dann wurde irgendwann zusätzlich noch eine Psychose
vermutet. Noch heute sind die Diagnosen alle Jahre abweichend. Sicher ist: Ihre Angst steht über
allem. Angst vor anderen Menschen. Angst vor Neuem.
Heute lebt sie in einer Einrichtung für psychisch Kranke. Sie lebt geschützt, hat es gut
dort. Glücklich ist sie selten.
Ich liebe meine Schwester sehr. Ihr meine Liebe zu zeigen ist schwer, komme ich doch immer
noch nicht wirklich an ihr Herz heran. Umarmungen sind bis heute selten, ihr Lächeln ist eine
Kostbarkeit. Wie gerne würde ich sie in einem Meer von Glück schwimmen sehen. Könnte sie doch Glück
spüren, ohne die allgegenwärtige Angst im Nacken.
Heute kämpfe ich mit den Mustern unserer Kindheit: die frühe Verantwortung, mein hoffnungsloses
Unterfangen, die Eltern vor noch mehr Sorgen zu schützen. Ich galt, im Gegensatz zu meiner
Schwester, als Sonnenschein, als vernünftig. Erst nachdem ich aus dem Elternhaus ausgezogen war,
lebte ich eine pubertäre Abgrenzung. Unbewusst wollte ich keine Fehler machen, nur stark sein; ich
fühlte mich für die Stimmung in der Familie verantwortlich. In manchen Bereichen meines Lebens ist
dies heute oft noch Antrieb meines Handelns. Und gleichzeitig versuche ich, meine Schwester in
ihrer vielschichtigen Andersartigkeit und unsere Unterschiedlichkeit immer wieder aufs Neue
anzunehmen.
R.K.