In vielen Ländern werden seit 2009 Missbrauchsfälle in unserer Kirche bekannt. Bischöfe,
Priester, Ordensleute und Erzieher haben Kinder und Jugendliche über Jahre hinweg sexuell
missbraucht. Laut einer Studie der Deutschen Bischofskonferenz waren in Deutschland zwischen 1946
und 2014 mindestens 3.677 Minderjährige die Opfer von 1.670 Klerikern. Die Zahl der Betroffenen
kann durchaus noch höher liegen, da sich nicht alle Missbrauchten melden und nicht alle Vorfälle in
den Personalakten dokumentiert wurden. Dass die Diskussionen über diese Verbrechen in der
Öffentlichkeit immer noch nicht beendet sind, liegt nicht alleine an der Schwere der Schuld,
sondern ist auch das Ergebnis eines völlig falschen Vorgehens der verantwortlichen Stellen.
Zunächst wurden die Verbrechen bagatellisiert und der sexuelle Missbrauch als ein generelles
Phänomen der Gesellschaft dargestellt. War nicht absehbar, dass an kirchliche Mitarbeiter besondere
moralische Anforderungen gestellt werden? Auch Diebstahl ist ein gesamtgesellschaftliches Problem,
doch werden mit diesem Argument stehlende Kleriker nicht zur Rechenschaft gezogen? Dass es sich
zudem nicht um wenige Einzelfälle handelte, muss den Personalverantwortlichen bewusst gewesen sein,
kannten sie doch die Einträge in den Personalakten. Die Öffentlichkeit aber sah in dem Hinweis auf
Missbrauch in Familien und Sportvereinen sowie auf die sexuelle Revolution der Nach-68er-Jahre als
Nährboden für diese Verfehlungen den Versuch kirchlicher Stellen, das abscheuliche Verhalten und
die Schwere der Schuld kleinzureden.
Die körperlichen und seelischen Verletzungen der Opfer sind in der Regel nicht zu heilen,
sondern bestenfalls zu mildern. Das öffentliche Feilschen um die Höhe der finanziellen Hilfen und
über die Übernahme von Therapienkosten musste die Öffentlichkeit darin bestärken, dass auf Seiten
der Verantwortlichen die Auswirkungen des Missbrauchs bei den Betroffenen immer noch nicht
hinreichend ernst genommen werden, und dass man versuche, mit möglichst wenig Geld das unliebsame
Thema aus der Welt zu schaffen.
Bis heute bleiben die Verantwortlichen für den Personaleinsatz außen vor, die den Missbrauch
vertuscht, kleingeredet, verschwiegen haben und durch Versetzungen der Täter neue Verbrechen
ermöglichten. Wenn der Hehler so gut ist wie der Stehler, dann sind auch diese zu ermitteln, zu
benennen und zur Rechenschaft zu ziehen.
Übersehen wurde zuletzt auch die Tatsache, dass die Öffentlichkeit aufgrund dieses
amateurhaften Vorgehens alle Priester unter Generalverdacht stellen würde. Die Verunsicherung bei
den Gläubigen ist täglich zu erfahren. Kinder dürfen mancherorts nicht mehr an Zeltlagern
teilnehmen, wenn auch der Pfarrer mitfährt; anderswo werden bei der Erstbeichte der Kinder
Glastüren verlangt, damit die Eltern zwar nichts hören, aber sehen können, ob es nicht zu
Übergriffen kommt. Ich bin froh, dass ich als verheirateter Diakon anscheinend von diesen Ängsten
ausgenommen werde.
Bis heute ist nicht geklärt, warum – nach Untersuchungen der amerikanischen Justizbehörden –
gerade bei Klerikern sexueller Missbrauch gehäuft auftritt, obwohl die Anzahl der Pädophilen unter
dem gesamtgesellschaftlichen Wert liegt. Spielt der Zölibat eine nicht zu unterschätzende Rolle?
Liegt es an der Überhöhung des Priesteramtes und den Machtstrukturen in der Kirche? Oder sind vor
dem Hintergrund des Priestermangels unzureichende Zulassungsbedingungen zum priesterlichen Amt
dafür verantwortlich? Um diese Fragen beantworten zu können, sind neutrale Untersuchungen
notwendig, damit sichergestellt ist, dass die Ergebnisse nicht vorrangig den Wünschen der
Auftraggeber entsprechen.
Für ein Ende der Diskussionen und Unterstellungen sind absolute Transparenz, kompromisslose
Ermittlung der Täter mit Übergabe an die Staatsanwaltschaft, die Benennung derjenigen, die die
Vergehen durch Duldung nicht unterbunden haben, sowie eine entsprechend der Schwere der Schuld
angemessene Unterstützung der Opfer erforderlich. Nur die volle Wahrheit, so schmerzlich sie auch
sein mag, wird Vertrauen zur Kirche und ihren Amtsträgern wieder entstehen lassen.