Jürgen Zimmermann-Höreth engagiert sich seit zwei Jahren in einem Altenheim und spricht
über seine Erfahrungen.
Als Ruheständler kann man sich aussuchen, wo und wie man sich engagiert. Als Psychologe und
Psychotherapeut habe ich mich in einem Altenheim eingebracht. Ich wollte aber nicht nur spazieren
gehen, vorlesen oder mich bei Gesellschaftsspielen vergnügen. Ich wollte mich auch mit meinem
Gegenüber auf Augenhöhe über dessen aktuelle Befindlichkeit und seine zugrunde liegende
Lebensgeschichte verständigen.
Selbst 74jährig definiere ich meinen Einsatz im Altenheim als Praktikum für das "Altwerden".
Ich wollte die Lebensentwürfe alter Menschen im Heim kennenlernen, um zu schauen, was ich davon in
das eigene Älterwerden integriere.
Mit meinem vorsichtigen Beziehungsangebot habe ich den ersten Kontakt hergestellt –
erfolgreich – und so konnte sich nach und nach eine Vertrauensbasis entwickeln. Inzwischen ist
daraus eine Freundschaft geworden, die auch gemeinsam nach draußen vertreten wird. In der stark
fremdbestimmten Lebensphase im Heim ist dies keine Selbstverständlichkeit.
Auf der Grundlage dieser Beziehung hat man anscheinend an "Macht" gewonnen, eigene
Vorstellungen in das Zusammensein einzubringen und umzusetzen: was will ich tun, was kann ich tun,
was wäre hilfreich, was würde das Gegenüber freuen und was würde ihm Entlastung verschaffen? Aber
diese "Macht" trügt, die Ohnmacht nimmt ihren Lauf. Das Gegenüber bestimmt, akzeptiert, lehnt ab
und sei es nur aus Prinzip. Geduld und Aushalten sind gefordert. Zuhören, ja nur da sein, inaktiv,
geschärft kleinste Signale sehen, verstehen, zur Disposition stellen und schließlich auch
besprechbar machen. Alte Geschichten des Gegenübers kommen zum Tragen, in Bezug zu aktuellen
Ereignissen gesetzt gewinnen sie eine neue Bedeutung. Familienbezüge werden offengelegt, alte und
aktuelle Verletzungen werden spürbar, vielleicht auch in einem anderen Licht besprechbar. Auch der
Heimalltag wird in vielen Abläufen in Frage gestellt, kritisiert. Es wird geschimpft, es wird sich
Luft verschafft, man wird zum Mitwisser und zur Verschwiegenheit verpflichtet.
Entspannung tritt erst ein, wenn die Einlassungen beim nächsten Besuch an Bedeutung verloren
haben oder gar im Nachhinein als amüsant erlebt werden. Die eigene Ohnmacht scheint
unerträglich.
Aber erst diese, meine Ohnmacht zu spüren und zu ertragen, war die Voraussetzung an "Macht"
oder besser an Bedeutung zu gewinnen, um den Ablauf des Zusammenseins mit meinem Gegenüber
gemeinsam zu gestalten.
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Jürgen Zimmermann-Höreth