Spiritualität und Gesang
"Ein neues Lied will ich, o Gott, dir singen!" heißt es in Psalm 144. Welche Verbindung zwischen Singen und Spiritualität besteht, dieser Frage geht Pastoralreferent Bendikt Kremp nach.
Taizé-Gebet mit viel Gesang in einer außergewöhnlichen Atmosphäre in St. Severin ©SilviaBins
Das Leben eines Menschen beginnt mit einem Schrei! Nach den Bewegungen (Zappeln, Strampeln etc.) ist die Stimme die früheste Möglichkeit des kleinen Menschenkindes, sich bemerkbar zu machen.
Am Anfang der Bibel wird im Buch Genesis erzählt, wie Gott dem aus Lehm geformten Menschen
den Atem des Lebens einhaucht. Mag sein, dass diese Erzählung auf den ersten Blick naiv erscheint.
Sie wird hintergründiger, wenn man erfährt, dass das hebräische Wort für Atem – neschem – dem
hebräischen Wort für Seele sehr ähnlich ist. Gott haucht die Seele in den Menschen hinein – so das
Bild des Alten Testamentes – und der Mensch wird unweigerlich mit seinem Atem, seiner Stimme,
seinem Gesang antworten. Der Atem und die Stimme des Menschen bekommen so am Anfang der Bibel eine
Bedeutung zugeschrieben, die weit über die rein biologische Funktion von Sauerstoffzufuhr und
akustischem Signal hinausgeht.
Der Mensch kann im Laufe seines Lebens ein Instrument lernen. Der eine lernt Flöte, die
andere Gitarre, ein anderer sogar Orgel. Aber nur beim Singen wird der eigene Körper zum
Resonanzraum des Klanges, nur beim Singen verleiht der eigene Körper dem Ton die Klangfarbe.
Umgekehrt drückt sich auch eine gedrückte Stimmung, eine hohe Anspannung oder Angst unweigerlich in
der Stimme aus. Wer seine Stimme einsetzt, drückt sich selbst aus und gibt etwas von sich preis.
Wer gut sprechen möchte oder schön und kräftig singen möchte, wird schnell merken, dass es
für den Gebrauch der Stimme deutlich mehr als nur etwas Luft und den im Hals befindlichen
Stimmapparat braucht. Am Einsatz der Stimme ist der ganze Leib beteiligt. In der Stimme wirkt sich
aus, in welcher Haltung der Körper ist, wie frei oder gepresst der Atem fließen kann und –
untrennbar damit verbunden – wie angespannt, gelöst oder gar erschlafft der Körper ist. Wer
Gesangsunterricht nimmt, in einem Chor singt oder sich rhetorisch ausbilden lässt, wird nicht
umhinkommen, an genau diesen drei „Zutaten“ Haltung, Atmung, Spannung zu arbeiten. Erst auf dieser
Grundlage kann die Stimme schön und kräftig klingen. Nur so kann der Körper als Resonanzraum der
Stimme frei schwingen.
Wer sich mit spirituellen Traditionen, insbesondere der Meditation beschäftigt, wird
ebenfalls darauf stoßen, dass geeignete Haltung, Atmung und Spannung wichtige Voraussetzungen sind,
dass wir als Menschen durchlässig werden können für etwas, das größer ist als wir, dass unsere
Seele empfäng-lich werden kann für etwas, das über uns hinausweist.
Es geht bei der guten Haltung, Atmung und Spannung um weit mehr als um eine „Technik“.
Haltung, Atmung und Spannungsniveau sind Ausdruck dessen, wie wir gerade als Mensch da sind, es
geht um innere Haltung, echtes Ausatmen und Gelassenheit ohne Erschlaffung. Jedes tiefe Ausatmen
ist ein inneres Loslassen, und jeder gesungene Ton erfordert den Mut, etwas in den Raum zu setzen
ohne es hinterher zurückholen zu können.
Es gibt also einen Zusammenhang zwischen gutem Gesang und lebendiger Spiritualität. Es ist
wohl kein Zufall, dass die Menschen in vielen geistlichen Traditionen ihre Gebete gesungen haben:
Das Buch der Psalmen in der Bibel (Die Psalmen wurden gesungen!) zeigt, wie wichtig das gesungene
Gebet beim Gottesdienst im jüdischen Tempel war. Aus dem Leben in christlichen Klöstern ist das
gesungene Chorgebet nicht wegzudenken. Die Faszination des ökumenischen Klosters von Taizé basiert
nicht zuletzt auf der meditativen Wiederholung eingängiger geistlicher Gesänge. Auch in anderen
Religionen gibt es eine Vielzahl solcher Beispiele.
Wirklich schade ist es, dass Singen in unserem täglichen Leben wenig Platz hat. In der Regel
überlassen wir das Singen den Profis im Radio und anderswo. Unsere Kirchengemeinde erfüllt nicht
zuletzt damit eine wichtige Funktion, dass sie Möglichkeiten bietet, bei vielen Gelegenheiten zu
singen und den Gesang in Chorgruppen zu pflegen und zu entwickeln. Der Pfarrbrief gibt einen
Einblick in diesen Reichtum.
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Benedikt Kremp