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Vorlese-Vielfalt

Vorlesen – da stellt man sich Eltern oder Großeltern vor, die Kindern oder Enkelkindern vorlesen, aber es gibt auch ganz andere Konstellationen:

Vorlesen wird großgeschrieben in der Familie G. Hier lesen die Geschwister einander vor.
Gebannt hört Ava zu, während ihre Schwester Lotta flüssig und mit wechselnder Betonung vorliest – diesmal aus "Gute Nacht Willi Wiberg". Ava wird drei Jahre alt, Lotta ist 10. Aber auch Linus mit seinen 12 Jahren und die 8jährige Pola gehören zum Vorleseteam der Familie. "Manchmal war es langweilig", meint Lotta, "da wollte Ava immer nur das gleiche Buch hören, aber ich will ja auch mal was Neues lesen. Und ich konnte den Text schon auswendig", fügt sie lachend hinzu. Das Fühlbuch finden beide besonders schön, da kann man lesen, zuhören und auch etwas anfassen, zum Beispiel einen Reißverschluss auf- und zumachen... Als die jetzt großen Schwestern noch kleiner waren, hat Linus ihnen auch vorgelesen. Am Abend ist für alle die beste Vorlesezeit... Nicht nur die Geschwister lesen sich etwas vor, es gibt auch – in den Ferien – Familien-Vorlese-Bücher. Da lesen sich alle gegenseitig etwas vor, zum Beispiel haben sie einen Band Harry Potter gelesen. Wer das Familien-Vorlese-Buch aussuchen darf, das geht reihum. Und natürlich lesen auch die Großeltern vor, es gibt eigens einen Lese-Opa, wird spontan erzählt. Ohne Vorlesen, das geht gar nicht, darin sind sich alle vier Geschwister einig.

Doris H. (83) besucht ihren Mann (91) täglich im Seniorenheim und liest aus der FAZ vor.
Seit einem Schlaganfall vor zwei Jahren ist Herr H. rechtsseitig gelähmt und auf den Rollstuhl angewiesen. Zudem ist er fast
erblindet und stark eingeschränkt im Hören und im Sprechen, aber sein Geist ist wach und lebendig. Doris H. besucht ihren Mann täglich für drei Stunden im Seniorenheim. Herzstück dieser gemeinsamen Zeit ist das Vorlesen. "Mein Mann kennt die FAZ aus gesunden Tagen, so kann er durch das Vorlesen am aktuellen Tagesgeschehen in Politik und Gesellschaft teilhaben. Zugleich ist es auch für mich eine sinnvolle Gestaltung des Zusammenseins." Doris H. wählt Artikel aus, die beide interessieren, manchmal liest sie auch Gedichte oder Reiseberichte vor, die gemeinsame Erinnerungen aus den 46 Ehejahren wecken.
Das Vorlesen schafft eine besondere Nähe, stellt sie fest – sowohl geistig als auch durch den körperlichen Kontakt aufgrund seiner Schwerhörigkeit. Aber es ist auch anstrengend, strapaziert die Stimmbänder und ermüdet. Dennoch ist es für sie selbstverständlich, das fortzusetzen – mit seltenen Unterbrechungen, wenn sie sich einmal einen Kurzurlaub gönnt. Dann übernehmen Verwandte oder Freunde den Vorlese-Part. "Ich empfinde das als einen echten Liebesdienst, mit dem ich zeigen kann, dass mein Partner mir nach wie vor wichtig ist, dass wir einander nahe sein können, körperlich und geistig. Aus den Reaktionen meines Mannes wird für mich deutlich, dass auch er es so empfindet. So bin ich dankbar für diese Möglichkeit der Verbindung."

30 Frauen und Männer aller Altersstufen leben in der "Severinus-Beatmungspflege" in unmittelbarer Nähe des Krankenhauses der Augustinerinnen. Als Bewohnersprecherin ist Marianne R. einmal wöchentlich in der Einrichtung und beschreibt ihre Eindrücke.
Dem Besucher der Beatmungspflege eröffnet sich im wahrsten Wortsinn ein buntes Bild beim Studieren der Infotafel: Da ist der Kochkurs einmal in der Woche, die Sportgruppe dreimal pro Woche, und dann bleibt der Blick "hängen" am Angebot "Literatur – Lese-Zeit". Täglich von 12.30 bis 13.15 Uhr finden sich etwa zehn Bewohnerinnen und Bewohner ein zur Lesezeit.
Es sind Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen auf eine langfristige Beatmung angewiesen sind. Als Besucher oder Gast ist man berührt – und so ist es auch mir ergangen – von dem Bild, das sich auftut und in das man mithineingenommen wird. Hier wird Menschen vorgelesen, die auf ganz unterschiedliche Weise und vielfältig eingeschränkt sind – im Sprechen, im Hören oder in der bewussten Wahrnehmung. Und doch erlebe ich und spüre, wie der Text des Buches aufgenommen wird ... sicher in ganz unterschiedlicher Intensität. „Tod und Teufel“ von Frank Schätzing ist z. Zt. der Lesestoff.
Immer wieder gibt es Unterbrechungen durch die Medizintechnik, wenn sich hier und da das Beatmungsgerät meldet oder die Infusion zu Ende gelaufen ist. Mit hohem Aufwand verbunden ist diese tägliche Lese-Zeit, und doch ist es für die Bewohnerinnen und Bewohner geschenkte Zeit, gefüllt mit Zuwendung für Jede und Jeden.

 
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