Wie wichtig aber die Buchstaben des Alphabetes sind, zeigt eine alte, leider ausgestorbene
Liturgie am Vorabend einer Kirchweihe. In die leere Kirche wurde mit Asche ein großes, diagonales
Kreuz gelegt. Und der Bischof zeichnete mit seinem Bischofsstab das griechische und das lateinische
Alphabet in die Asche. Die Kirche steht auf dem Wort der Schrift.
"Hier geht es ja zu, wie in einer Judenschule." So sagt man, wenn alle durcheinanderreden.
Heute liest man normalerweise leise und stumm. Aber noch zur Goethezeit las man laut. Wie in der
Judenschule, wo alle Kinder ihren Text laut vor sich hin lasen. So auch das Gebet, Juden beten laut
und nicht schweigend. Etwas davon ist im Brevier-Gebet geblieben. Es soll labialiter, d. h. hörbar
leise, gebetet werden. Warum?? Nehmen Sie sich mal einen Psalm vor, irgendeinen. Bei den Nonnen
wurden die Psalmen oft auf einem gleichbleibenden Ton gebetet, ohne jede Modulation. Beim Chorgebet
der Mönche werden die Psalmen mit den festen Formen der Psalmodien gesungen. Und dann nehmen Sie
Ihren Psalm, den Sie sicher still gelesen haben, sprechen Sie ihn mal laut – ohne vorgegebene
Form. Dann merken Sie, was da an Emotionen drin steckt, Hoffnung und Verzweiflung, Höhen und
Tiefen…. Das alles kann nur durch lautes und freies Lesen wieder lebendig werden. Feste
Formen töten die Emotionen. Am Anfang steht das lebendige Wort – es wird durch die Buchstaben
und die Schrift sozusagen eingemacht, konserviert. Der Leser nimmt es auf, befreit und belebt es
wieder.
Sie haben sicher noch einen alten Liebesbrief oder den Brief eines lieben Menschen in
irgendeiner Schublade liegen. Lesen Sie den mal langsam und laut. Könnte es sein, dass Ihnen der
Autor des Briefes lebendig wird, dass Sie seine Stimme hören?
Das gilt nun nicht für alles, was gedruckt wird. Es gilt nicht für das Kleingedruckte, für
die AGBs, nicht für Beipackzettel und Gesetzestexte und dergleichen. Das gilt nur für Literatur.
Aber was ist Literatur? Alles, was mit Liebe zur Welt, zum Menschen und zur Sprache geschrieben
wurde, ist Literatur.
Leise Lesen heißt aber auch schneller lesen. Ein Vergleich mit dem Essen sei gestattet. Wer
Hunger hat und wenig Zeit, stopft sich was rein – auf der Straße, aus der Tüte – und
ist satt. Aber wie hat es geschmeckt? Keine Ahnung. Hauptsache ich bin satt. Aber satt sein ist
beim Essen ja nicht alles: eine kleine Portion auf dem Teller, der Duft, die Farbe, die Struktur,
der sich wandelnde Geschmack auf der Zunge: mmmh lecker. Ein ganz anderes Erlebnis als schnell satt
zu werden. Lesen ist also auch meditieren. Einen Text lesen und immer wieder lesen, ihn sozusagen
kauen, in seine Tiefe steigen, ihn sich aneignen …
Ein Bild legt fest. Es brennt sich fest ins Hirn und bleibt. Und alle, die das Bild gesehen
haben, haben mehr oder weniger das gleiche Bild im Kopf. Ganz anders die gelesenen Worte. Unsere
Erfahrung und unsere Phantasie nehmen das Gelesene auf und formen es zu ganz individuellen
Vorstellungen. Jeder hat andere Bilder im Kopf. Das Wort macht frei, das Bild legt fest.
Bekannt ist das Wort Heraklits: Kein Mensch steigt zweimal in den gleichen Fluss. Das gilt
auch für Bücher. Kein Mensch liest zweimal das gleiche Buch. Er entdeckt neue Perspektiven, was
beim ersten Lesen unbedeutend war, gewinnt nun an Gewicht … usw.
So lieber Leser, jetzt lesen Sie bitte weiter, was andere zu diesem Thema geschrieben
haben.
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Ihr Johannes Krautkrämer