"Beim ersten Mal ist es neu, bei zweiten Mal Wiederholung und beim dritten Mal Tradition"
– so oder so ähnlich wird hier bei uns in Köln über Bräuche, Feste und Feiern gesprochen und
(nicht nur sprachlich) so getan, als ob etwas schon immer so gewesen sei. Nichts mehr muss
legitimiert werden – wer wollte schon etwas gegen eine "gute alte Tradition" sagen?
Was aber ist eigentlich eine Tradition? Ein Blick in das Herkunftswörterbuch des Dudens zeigt:
das Wort "Tradition" meint: Überlieferung, Herkommen, Brauch, Gepflogenheit und stammt vom
lateinischen traditio (Übergabe, Überlieferung). Johann Wolfgang von Goethe drückt in seinem
"Faust" diesen Weitergabeprozess bekanntermaßen so aus: "Was du ererbt von deinen Vätern hast,
erwirb es, um es zu besitzen." Hier deutet sich an, was der Titel dieses Pfarrbriefs meint:
Tradition lebt davon, dass sie immer wieder hinterfragt, neu beleuchtet, "erworben" wird.
Wenn Traditionen sich nämlich nicht weiterentwickeln, verlieren sie ihre Lebendigkeit und werden
starr. Das Ergebnis heißt dann Traditionalismus, der sich schnell fundamentalistisch,
rechthaberisch gegen anders Denkende richtet. Diese Entwicklung kennen wir in unserer Kirche
(Lefebvre, Pius-Brüder, "Verharrer" an der römischen Kurie gegen von Papst Franziskus gewünschte
Neuerungen, Evangelikale …) und in unserer Gesellschaft (so ist z.B. zu hinterfragen, was
Anhänger von "Pegida" oder "AfD" meinen, wenn sie die Tradition eines "christlichen Abendlandes"
einfordern – Werte wie Nächstenliebe, von Gott gesegnetes Menschsein, die Aufhebung der
abschottenden, diskriminierenden Grenzen zwischen Mann und Frau, Sklave und Herr, Fremden und
Einheimischen, so wie Paulus dies in seinem Galaterbrief (3,28) tut?).
Manchmal müssen Traditionen auch aufgebrochen werden, damit etwas Neues wachsen kann. So z.B. am
9.11.1967, als Studenten vor in Talaren durch die Hamburger Universität schreitenden Professoren
und Dozenten ein Transparent entrollten mit dem Titel: "Unter den Talaren Muff von 1.000 Jahren"
– und damit die sogenannte 68er-Studenten-Revolte einläuteten. Gott sei Dank – so sagen
wir heute – läuft der Studienbetrieb an unseren Hochschulen heute anders als vor
1968.
In meiner persönlichen Biographie nehme ich rückblickend sowohl wohltuende Traditionen als auch
wohltuende Traditionsbrüche war. Ein 1965 von mir als ein großer Traditionsbruch empfundener war
es, als die Gottesdienstsprache von Latein zu Deutsch wechselte. Ich war damals wütend, weil dies
eine Woche vor unserer Messdiener-Aufnahmefeier geschah und wir alles neu lernen mussten. Heute
kann ich darüber schmunzeln und bin heilfroh, dass es so gekommen ist.