Ruth S. (Großmutter), Ottavio S. (Vater), Clara O. (Jugendliche) im Gespräch mit Christoph S. (Journalist und Vater) - ein Gespräch über Dankbarkeit zwischen den Generationen
Ruth S., Ottavio S., Christoph S., Clara O. (v.l.)
Christoph: Wie erlebt ihr Dankbarkeitinnerhalb der Familie, zwischen Enkel, Eltern und Großeltern?
Clara: Dankbarkeit ist ja etwas schwierig zu definieren. Wenn meine Mutter mir ein Eis spendiert,
dann sage ich Dankeschön. Das ist etwas Normales und Alltägliches und geschieht spontan.
Andererseits, wenn ich einmal in mich gehe, dann bin ich dankbar für gewisse Dinge, die
beispielsweise meine Erziehung betreffen. Wenn ich etwa das Verhalten anderer Jugendlicher sehe,
das mir nicht gefällt, dann denke ich, wie gut, dass meine Eltern mir dies und jenes beigebracht
haben.
Ruth: Grundsätzlich bedeutet Dankbarkeit für mich, sich über die kleinen Dinge des Lebens zu freuen
und dankbar für sie zu sein, zum Beispiel für die Blumen auf dem Rondell im Kreisverkehr. In einem
weiteren Sinne empfinde ich Dankbarkeit gegenüber den Menschen, die die Blumen gepflanzt haben, und
in einem noch weiteren Sinne gegenüber Ihm dort oben, der alles hervorgebracht hat. Ich freue mich
auch über das Strahlen in den Augen meiner Kinder und Enkelkinder, wenn sie etwas von mir bekommen
haben. Sie danken auch dafür, denn das haben wir unseren Kindern als Eltern auch vermittelt. Aber
ihre Dankbarkeit erkenne ich schon an ihrem Lächeln. Und dann empfinde ich selbst Dankbarkeit
dafür, dass ich dieses Lächeln geschenkt bekomme.
Ottavio: "Dankbarkeit heißt Wieder- erkennen oder Anerkennen."
Ottavio: Ich hatte das Glück, zwei Großmütter, die alt geworden sind, zu erleben. 93 Jahre sind
sie alt geworden, und dafür bin ich unendlich dankbar. Sie haben mir so viel aus ihrem Leben
erzählt. Andererseits war es für mich auch ein Prozess, das Leben mit Dankbarkeit zu betrachten,
denn mein Vater starb, als ich 15 war. Es hat sehr lange gedauert, bis ich sagen konnte, dass ich
dankbar dafür bin, 15 Jahre mit ihm gelebt zu haben. Sein Tod war zuerst einmal ein Schock. Doch
letztlich bin ich dahingekommen, dankbar zu sein für die Zeit, die wir gemeinsam hatten. Mir kommt
aber noch etwas anderes in den Sinn, wenn ich an italienische Übersetzungen für Dankbarkeit denke.
Da gibt es zum einen das Wort gratitudine, das mit grazie, also danke, zusammenhängt. Aber es gibt
noch ein anderes Wort, das ich noch interessanter finde, nämlich riconoscenza, was mit conoscenza,
also Erkenntnis, zusammenhängt. Zusammen mit der Vorsilbe ri verändert sich die Bedeutung Richtung
Wiedererkennen oder Anerkennen. Indem ich beispielsweise erkenne, dass ich mein Leben nicht alleine
geschaffen habe, anerkenne ich, dass ich nicht ganz der Allesmacher bin, der Herr meiner selbst,
sondern auf etwas Anderes angewiesen bin, das mir vorausgeht. Diese Erkenntnis oder Erfahrung kann
sich dann zu einer Haltung dem Leben gegenüber entwickeln. Und zu dieser Haltung zu gelangen ist
wichtiger, als darauf zu achten, dass meine Kinder danke sagen, wenn sie ein Geschenk bekommen.
Danke zu sagen, muss ich meinen Kindern natürlich auch vermitteln, aber die Erfahrung einer
grundsätzlichen Dankbarkeit kann ich Ihnen nicht vorschreiben, darauf müssen sie irgendwann selbst
kommen.
Das heißt, Dankbarkeit bedeutet auch, die Mühen anderer anzuerkennen. Dabei fällt mir eine eigene Erfahrung ein, die ich mit meinen Eltern gemacht habe. Das, was
sie mir ermöglichten, empfand ich während meiner Kindheit und Jugend eher als selbstverständlich.
Sie erfüllten in meinen Augen ihre Pflicht als Eltern. Erst als ich selbst Vater wurde und die
Familie wuchs und meine Frau und ich erlebten, wieviel Hingabe und echte Knochenarbeit es
erfordert, Kinder großzuziehen, wurde mir klar, was meine Eltern, vor allem meine Mutter mit ihren
vier Söhnen geleistet hatte. Und heute noch, mit ihren 80 und mehr Jahren, wären unsere Eltern
immer noch für uns da, wenn wir ihre Hilfe bräuchten.
Clara: Allerdings muss man sagen, dass viele Eltern ihrer Elternpflicht nicht nachkommen. Und wenn
ich mir das vor Augen führe, bin ich meinen Eltern dankbar, dass sie genau das getan haben und nach
wie vor tun, was gute Eltern tun.
Ruth: "...dankbar für das Lächeln meiner Kinder und Enkel."
Aber ist diese Art von Dankbarkeit ein natürlicher Entwicklungsprozess oder müssen junge
Menschen auch dazu von ihren Eltern angeleitet werden?
Ruth: Ich glaube, dass es ohne Erziehung und Vorleben von früh an nicht geht. Allerdings sind daran
nicht nur die Eltern beteiligt, sondern das ganze soziale Umfeld. Vielleicht gehört aber auch ein
wenig Veranlagung dazu.
Ottavio: Ja, das denke ich auch. Es ist wie bei der Höflichkeit. Die kann ich meinen Kindern mit ein
paar Regeln vermitteln, so wie man ihnen Tischmanieren beibringt. Aber Dankbarkeit als eine Haltung
weiterzugeben, ist viel komplizierter. Claras Eltern haben das offensichtlich gut geschafft. Aber
mir fällt es schwer von einer Erziehung zur Dankbarkeit zu sprechen.
Ruth: Ich glaube, man kann Kinder für eine Wachsamkeit und Achtsamkeit gegenüber anderen
sensibilisieren, man kann ihnen vermitteln, andere ernstzunehmen und sie wertzuschätzen.
Ottavio: Und genau dafür muss ich mit Kindern ins Gespräch kommen, ihnen ihr Verhalten oder das, was
sie sagen, spiegeln, etwa wenn sie sich als Behinderte beschimpfen, worüber ich mich kürzlich sehr
geärgert habe. Ich habe dann versucht zu erläutern, was es bedeutet behindert zu sein. Über solche
konkreten Fälle muss man dann immer wieder reden.
Und als Eltern und Großeltern Dankbarkeit vorzuleben, hilft Kindern sicherlich ebenfalls
zur Orientierung.
Ottavio: Klar, es hat gar keinen Sinn, wenn man Fernsehnachrichten über den Bürgerkrieg in Syrien
sieht und seinen Kindern sagt, sei dankbar, dass du hier im Frieden lebst.
Ruth: Aber auch darüber können wir mit unseren Kindern und Enkelkindern ins Gespräch kommen und
sagen, stell dir doch einmal vor, hier auf die Südstadt würden auf einmal Bomben fallen und wir
müssten alles zurücklassen und tausende Kilometer zu Fuß in ein fremdes Land flüchten – ich
glaube, wenn man die Situation auf diese Weise durchspielt, entwickeln wir ein Gespür für die Not
anderer einerseits und für das Geschenk, im Frieden zu leben, andererseits.
Die Normalität des Friedens und des Wohllebens kann recht stumpf und übellaunig
machen.
Ottavio: Allerdings. Als Lehrer hatte ich kürzlich in einer Klasse unterrichtet, in der auch viele
Flüchtlingskinder waren. Es ging darum, dass die Kinder miteinander reden und die Flüchtlingskinder
Deutsch lernen sollten. Ein Fünfzehnjähriger aus Syrien erzählte von seiner Flucht und irgendwann
zeigte er uns die Verletzungen und Narben auf seinem Rücken, die er von Glassplittern davongetragen
hatte. Dabei strahlte er und sagte, dass er glücklich und dankbar sei, in Deutschland zu
sein.
Also öffnet uns das bedrohte Leben für Dankbarkeit. Ich möchte aber noch einen anderen
Aspekt hinzufügen. Ich empfinde Dankbarkeit auch in einem anderen Zusammenhang. Vor Milliarden
Jahren hat eine geheimnisvolle Kraft für den Urknall gesorgt, für Raum und Zeit, für Galaxien und
Planeten und für Leben auf unserer Erde. Und dieser Schöpfergeist wirkt bis in unsere Gegenwart,
bis in unser Gespräch. Ich erkenne uns selbst als geheimnisvolle Wesen, die sich über ihr
erstaunliches Dasein austauschen. Dafür bin ich unendlich dankbar.
Clara: "...dankbar, dass meine Eltern tun, was gute Eltern tun."
Clara: Das können Eltern aber nicht so leicht vermitteln. Mit dieser Art von Dankbarkeit ist es wie
mit dem Glauben. Eltern und Großeltern können den Glauben weitergeben, aber irgendwann muss ich
selbst entscheiden, was ich glaube, woran ich glaube. Irgendwann muss ich selbst zu einer
Erkenntnis oder einer Entscheidung kommen.
Ottavio: Ja, das denke ich auch. Und dieser Weg ist kein gerader Weg, sondern ein verschlungener Weg
voller Sackgassen, voller Krisen, voller Zufälle. Zur Dankbarkeit gibt es keine einfache, direkte,
klare Verbindung. Dankbarkeit muss wachsen.
Das bedeutet aber, dass die Dankbarkeit einen Freiraum braucht, den Raum freier
Entscheidung. Und nun frage ich mich: Wenn ich zur Erfahrung oder zur Entscheidung der Dankbarkeit
gekommen bin – entsteht daraus nicht auch eine Verantwortung, nämlich etwas von dem
zurückzugeben, was ich selbst empfangen habe?
Ottavio: Mir fällt es schwer, hier eine moralische Verpflichtung zu fordern. Wenn das verantwortliche
Handeln lediglich aus einer Pflicht entsteht, fehlt mir genau dieses Moment der Freiheit.
Clara: Und es fehlt die innere Haltung, etwas Gutes auch von Herzen zu wollen. Eine Vorschrift hilft
da nicht viel.
Ich meine auch keine Vorschrift, sondern eher eine Einsicht. Ich erkenne, wie gut es meine
Eltern und Großeltern mit mir gemeint haben, und empfinde aus Dankbarkeit den Drang, es nicht nur
mit meinen alten Eltern gut zu meinen, sondern auch mit den Menschen meiner Umgebung.
Ottavio: Im Begriff Verantwortung steckt das Wort Antwort. Insofern wäre die Verantwortung die Antwort
auf die Erfahrung der Dankbarkeit.
Ruth: Vielleicht könnte man sagen, dass Dankbarkeit die Brücke ist zwischen dem Guten, das wir
von anderen erfahren haben, und dem, was wir für andere tun können.
Nach solch schönen poetischen und philosophischen Gedanken würde ich gerne zum Schluss noch
einmal den Blick auf die Wirklichkeit heute werfen. Wie ist es um die Dankbarkeit in unserer
Gesellschaft bestellt?
Ottavio: Nicht gut. Natürlich findet man sowohl für negative als auch positive Entwicklungen viele
Beispiele. Aber ich beobachte allgemein eine große Gleichgültigkeit.
Clara: Das finde ich auch. Umso mehr freue ich mich riesig darüber, wenn ich in meinem Alltag
Zeichen von Dankbarkeit erfahre.
Ruth: Aber vielleicht sehen wir manchmal die versteckten Zeichen der Dankbarkeit
nicht.
Ottavio: Das mag sein. Aber dennoch habe ich den Eindruck, dass es beispielsweise im Bereich des
familiären Zusammenhanges noch Luft nach oben gibt.
Womit wir bei einem neuen weiten Themenfeld angekommen wären, aber leider am zeitlichen
Limit für diese Runde über Dankbarkeit zwischen den Generationen. Dankbar bin ich euch für dieses
Gespräch!