Gisbert v. Haugwitz (45, Politologe) leitet gemeinsam mit Victoria Secheneva (29, Sozialarbeiterin) das Wohnheim Vorgebirgstraße. Victoria Secheneva ist vor fünf Jahren aus Wolgograd - dort hat sie Deutsch studiert - nach Deutschland gekommen und hat in Düsseldorf Sozialpädagogik studiert.
Was lässt die Menschen "fremdeln"? v. Haugwitz: Fremd ist für viele, in einem Container gemeinsam mit anderen fremden Menschen zu leben.
Da gibt es anfangs oft eine große Frustration, entstanden durch Vorstellungen und Wünsche, mit
denen die Menschen hierhergekommen sind, oft aus einem ganz bürgerlichen Umfeld. Es ist aber
erstaunlich, wie schnell es den meisten gelingt, sich damit zurechtzufinden.
Secheneva: Die Menschen wissen meistens nicht, was sie erwartet. Viele haben Angst, weil sie aus
Gesellschaften stammen, wo viele Dinge anders funktionieren. Auch so einfache alltägliche
Tätigkeiten wie Einkaufen, Bahn fahren oder zum Arzt gehen erscheinen zuerst als unüberwindbare
Hürden. Die neuen Regeln und Normen und die neue Sprache stellen die Menschen vor große
Herausforderungen. Man erwartet, dass sich Flüchtlinge so schnell wie möglich integrieren. Die
Asylsuchenden bekommen das natürlich auch mit. Und es übt einen enormen Druck auf sie aus. Viele
haben traumatische Erfahrungen gemacht. Einige haben Heimweh, manche mussten ihre Familien im
Herkunftsland lassen. Die asylrechtlichen Bestimmungen, wie Arbeitsverbot, kein Zugang zu
Sprachkursen, überwiegend zentrale Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften hindern die Menschen
daran, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. All das macht zumindest am Anfang etwas
misstrauisch.
Was hilft bei der Überwindung? v. Haugwitz: Wir versuchen, die Erfahrung der Fremdheit mit einer guten Betreuung und mit einem
„Sorgepaket“ zu kompensieren, indem wir etwas anbieten, damit die Menschen sich zu
Hause fühlen können. Das sind Sprachkurse, fünfmal in der Woche, es sind freundliche Lehrpersonen,
die mehr Selbstsicherheit geben in fremder Umgebung, es sind Sportangebote wie zum Beispiel Fußball
oder Klettern, es ist medizinische Beratung – all das vermittelt das Gefühl, nicht
alleingelassen zu sein. Bei aller offenen und freundlichen Umgehensweise müssen natürlich manchmal
auch Grenzen aufgezeigt werden.
Secheneva: Es sind insbesondere Menschen, die einem das Gefühl geben, man schafft das, man ist nicht
alleine, hier ist jemand, auf den ich mich verlassen kann. Zum Glück haben wir im Wohnheim sehr
herzliche und kompetente hauptamtliche und ehrenamtliche Mitarbeiter. Mit ihrer Hilfe sorgen wir
dafür, dass unsere Bewohner in allen Lebensbereichen unterstützt werden. Wir legen großen Wert auf
den Ansatz Hilfe zur Selbsthilfe. Mit unseren Angeboten (Sportangebote, Sprachkurse, Frauengruppe
etc.) versuchen wir, den Alltag der Bewohner vielfältig zu gestalten und in erster Linie
Selbstständigkeit zu vermitteln. Da wir eine Notaufnahme sind, liegt die durchschnittliche
Aufenthaltsdauer unserer Bewohner in der Regel zwischen 3 Tagen und 3 Monaten. In dieser kurzen
Zeit ist unser größtes Ziel, die Menschen durch unsere Betreuung und Beratung auf ihren weiteren
Aufenthalt in Deutschland vorzubereiten und mit allen dafür notwendigen Informationen
auszustatten.
Haben die Fremdheitserfahrungen auch eine positive Seite? v. Haugwitz: Die Menschen haben beachtliche Ressourcen, sie stellen sich der Situation und setzen sich
mit ihrer Lage auseinander. Schwer depressive oder gewalttätige Menschen, das sind absolute
Ausnahmen. In der Notaufnahme warten die Leute ja auf ihre weitere Zukunft und werden nicht bei uns
bleiben, deshalb will man sie nicht dauerhaft beheimaten. Nicht selten müssen sie aber mehrere
Monate hier sein, mit dieser Unwägbarkeit müssen wir arbeiten. Die Fremdheit kann leichter
überwunden werden, wenn die Menschen eine ethnische oder kulturelle Gruppe vorfinden, der sie sich
zugehörig fühlen. Das zu ermöglichen liegt natürlich nicht in unserer Hand. Da war einmal ein Mann
aus Bangladesch bei uns, der sehr einsam war, weil es niemanden gab, der seine Sprache sprach.
Ich denke an eine alleinstehende Mutter, die mit ihrem Kind geflohen ist, ihr Mann lebt noch
zu Hause, und sie vermisst ihn und die Heimat sehr. Dennoch hat sich sich auf das Hiersein
eingelassen.
Secheneva: Zu lernen, sich in einer völlig neuen Umgebung zurechtzufinden, ist sehr wichtig. Auch
Schwierigkeiten, mit denen man konfrontiert wird, kann man als positiv sehen. Diese Erfahrungen und
die dabei erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten können auch für das spätere Leben, vielleicht
auch in einem anderen Land, sehr hilfreich sein. Erfahrungen machen uns stärker für die
Zukunft.
Was sind ihre persönlichen Strategien im Umgang mit Fremdheit?
v. Haugwitz: Ich bin selbst viel im Ausland gewesen und damit dort fremd. Ich habe dann immer
versucht, Kontakt zu den Menschen vor Ort zu knüpfen und etwas gemeinsam mit ihnen zu machen, bin
zum Beispiel in einen Chor oder einen Sportverein gegangen. Ich habe mich nie eingeigelt in kleinen
heimatlichen nationalen Grüppchen. Zugang zu der jeweiligen Kultur zu suchen, sich zum Beispiel auf
das fremde Essen einzulassen, all das überwindet Fremdheit.
Secheneva: Ich finde, es ist immer sehr wichtig, Kontakt zu den Menschen zu suchen und vor diesem
Kontakt keine Angst zu haben. Nur so kann man das Land, seine Menschen besser kennenlernen und
verstehen, wie die Gesellschaft funktioniert. Man sollte auch versuchen, so viele Dinge wie möglich
selbstständig zu tun, auch wenn es einem schwer fällt oder am Anfang sogar unmöglich erscheint.
Aber je öfter man etwas selbst gemacht hat, desto besser kann man es beherrschen. Man sollte keine
Angst haben, sich auf das Neue einzulassen.
Beim gemeinsamen Lernen werden neue Kontakte geknüpft, aber auch Unsicherheit und Ängste
genommen.
Städtisches Wohnheim
Das städtische Wohnheim besteht aus einer Notaufnahme für vorübergehend in Köln bleibende
Flüchtlinge sowie einem Regelwohnheim mit von der Stadt Köln zugewiesenen Familien. Zehn
hauptamtliche Kräfte, unterstützt von ehrenamtlichen Helfern, betreuen ca. 150 Flüchtlinge aus den
Ländern Südosteuropas, des Nahen Ostens, Südostasiens sowie Nord- und Zentralafrikas.