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Fremde Höflichkeit

Dorit L. - Lehrerin an einem Gymnasium - macht eine ungewöhnliche Erfahrung

Projekttag "Flüchtlinge" an meiner Schule. Ein junger Syrer Mitte 20 kommt in meinen Ober- stufenkurs, um uns von seiner Flucht zu erzählen. Wir haben für unseren Gast alles vorbereitet: Kaffee und Kuchen, sogar eine arabische Gebäckspezialität, die ein Schüler mitgebracht hat, dessen Eltern aus Palästina kommen.

 

Ich begrüße unseren Gast und lade alle ein, sich zu bedienen. Während der junge Syrer von seiner Flucht erzählt, sagt der Schüler, der das arabische Gebäck mitgebracht hat, leise zu mir: "Sie müssen unserem Gast etwas zu essen und zu trinken anbieten!" Stimmt, er hat sich eben nur eine Tasse Kaffee genommen. Also biete ich ihm etwas zu essen an; er bedankt sich höflich, er habe schon gegessen und wolle nur etwas trinken.

<p>©SilviaBins </p>Andere Länder, andere Sitten - Eine freundliche Einladung zum gemeinsamen Essen kann auch für Verwirrung sorgen.

©SilviaBins

Andere Länder, andere Sitten - Eine freundliche Einladung zum gemeinsamen Essen kann auch für Verwirrung sorgen.

Er berichtet von seiner Odyssee durch den Nahen Osten und Nordafrika, der Überfahrt über das Mittelmeer. Die Schülerinnen und Schüler wollen alles genau wissen. Unser Gast gibt bereitwillig Auskunft. Erneut höre ich neben mir: "Sie müssen unserem Gast etwas zu essen und zu trinken anbieten!" Ich bin irritiert: Nochmal? Ich will ihm doch nichts aufdrängen. Verunsichert schaue ich den Schüler an. Er nickt er mir ermunternd zu. Ich biete unserem Gast also noch einmal etwas zu essen und zu trinken an. Wieder lehnt er dankend ab, nimmt sich nur etwas Kaffee.

Im Lauf des Gesprächs mahnt mich der Schüler noch zwei weitere Male, und mit jedem Mal werde ich ratloser. Hilfesuchend schaue ich ihn an und sage leise: "Das hab ich doch schon getan! Ich will ihn doch nicht zwingen, etwas zu essen!" Der Schüler antwortet: "In arabischen Ländern muss man seinen Gästen das Essen und die Getränke immer mehrmals anbieten, bevor sie etwas nehmen. Sofort zuzugreifen gilt als sehr unhöflich!"

Mittlerweile hat unser Gast mein Gespräch mit dem Schüler bemerkt und auf dessen Inhalt geschlossen. Er sagt, er freue sich sehr über die Gelegenheit, mit uns zu sprechen. Dann nimmt er sich etwas zu essen, erklärt aber, dass er eigentlich nichts habe essen wollen, denn er könne unsere Gastfreundschaft leider im Moment nicht so erwidern, wie es in Syrien üblich sei: indem er uns auch bewirte.

 

Wir sind sehr gerührt. Mir fehlen die Worte, und ich bin froh, dass meine Schülerinnen und Schüler unserem Gast versichern, wie sehr sie sich über seinen Besuch freuen. Dankbar höre ich einen Schüler sagen: "Dass Du hier bist, das ist das größte Gastgeschenk an uns!"

Dorit L.

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