Theologie in Stein
Architekten sind Künstler. Wenn sie ein Haus entwerfen und planen, versuchen sie im Bau bestimmte Vorstellungen zu realisieren. Bauten sind somit immer "Philosophie in Stein".
Dies gilt erst recht für die Kirchen. Werden heute Kirchen in Ellipsenform gebaut, um die Gleichrangigkeit von Wort und Altar zum Ausdruck zu bringen, so stand nach dem Konzil das Zelt im Vordergrund als Sinnbild für eine Gemeinde auf dem Weg. In seinem 2011 erschienenen Werk "Geheiligte Räume – Theologie, Geschichte und Symbolik des Kirchengebäudes" zeigt der evangelische Theologe Franz-Heinrich Beyer auf Basis historischer Quellen die Vorstellungen auf, die hinter den verschiedenen Formen der Kirchenarchitektur gestanden haben. Wir greifen hier einige seiner Überlegungen auf und übertragen sie auf St. Severin.
St. Severin als romanische Basilika mit ihren vielfältigen Erweiterungen und Anpassungen an den jeweiligen Zeitgeist lässt die Theologie in ihren Steinen nicht leicht erkennen. Es lohnt sich, auf Spurensuche zu gehen.
Das Portal macht durch die besondere architektonische Gestaltung deutlich, dass eine wichtige Schwelle überschritten wird. Es symbolisiert Christus, der durch seine Menschwerdung auf der Schwelle zwischen Gott und Menschheit steht: "Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden" (Johannes Kapitel 10, Vers 9). Der Wechsel in den Raum hinter dem Portal ist eine ernste Angelegenheit. Darauf weisen die Figuren oberhalb der Tür hin.
Nach dem Durchschreiten des Portals gelangt man in die ursprünglich hoch aufragende, zum Kirchenschiff hin offene Turmhalle. Heute wirkt der als Kerzenkapelle genutzte Raum eher wie eine Vorkirche. Solche Räume bezeichnete man im Mittelalter als Galiläa, weil man von hier aus am Palmsonntag in den Kirchraum, nach Jerusalem einzog. Der Kirchraum wurde durch die Vergegenwärtigung des Todes Jesu zu Jerusalem, der Altar zu Golgatha. Dies ist nur verständlich, wenn man weiß, dass der christliche Kirchenbau in Jerusalem an den wichtigsten Originalschauplätzen des Glaubens (Ölberg, Golgatha, Bethlehem) begann. Sie wurden durch Prozessionen miteinander verbunden. Alle späteren Kirchenbauten orientierten sich daher an Jerusalem.
Das Mittelschiff und die beiden Seitenschiffe markieren den eigentlichen Kirchenraum. Die beiden Außenwände, die der Schlussstein des Gewölbes miteinander verbindet, symbolisieren den Aufbau der Kirche aus Juden und Heiden: "Er vereinigte die beiden Teile (Juden und Heiden) ... ihr seid auf das Fundament der Apostel und Propheten gebaut; der Schlussstein ist Christus Jesus selbst" (Epheserbrief Kapitel 2, Verse 14 und 20).
Die Säulen wiederum stehen für die Verbindung zwischen Erde und Himmel und symbolisieren die Apostel als Stützen der Kirche (nach Galaterbrief Kapitel 2, Vers 9) "Jakobus, Kephas und Johannes, die als die «Säulen» Ansehen genießen".
Hochchor St. Severin ©SilviaBins
Nicht vergessen werden dürfen die Fenster. Sie sind vergleichbar den heiligen Schriften, denn "alles Schändliche wird durch sie ferngehalten; die Klarheit und Wärme des Sonnenlichtes der göttlichen Gnade aber senken sich in die Seelen der Gläubigen" (Franz-Heinrich Beyer).
Die Grundrissform erinnert durch das Querschiff an das Kreuz. Die Gestaltung orientierte sich am Vorgehen der Römer bei der Bestimmung des Ortes für eine Siedlung. Die Ost-West-Linie, geschnitten durch eine Nord-Süd-Linie, wurde durch den Lauf der Sonne bestimmt. Die Himmelsrichtungen aber hatten im Mittelalter ganz bestimmte Bedeutungen. Aus dem Osten kommt das Heil. Der Norden steht für Unheil und Tod. Der Süden weist auf Zukunft hin. Der Westen steht für Anfechtung durch das Böse.
Wer die Kirche also betritt, kommt als Sünder, dem Bösen erlegen. Er macht sich auf zum versprochenen Heil, bedrängt durch Unheil und Tod, aber in der Hoffnung auf Rettung in der Zukunft.
Der Gang durch die Kirche bis zum Altar symbolisiert also "den Weg von der Glaubensferne zum Glauben, von der Dunkelheit zum Licht" und, insofern der Altar für das Kreuzesopfer Jesu steht, auch den Weg nach Jerusalem in seiner Nachfolge.
Bedeutung hatte die Nord-Süd-Linie übrigens bei der Trennung der Geschlechter im Kirchenraum. Der südliche Teil des Kirchenschiffes wurde den Männern zugedacht, weil sie nach mittelalterlicher Anschauung gefestigter im Glauben waren, der nördliche Teil den Frauen wegen der unterstellten Glaubensschwäche.
Auch der Ort, an dem St. Severin steht, ist kein Zufall. "Neue" Religionen nutzen bewusst Orte, die in der Vergangenheit religiös ausgezeichnet und ausgewiesen waren, als Orte erfahrener Gottesanwesenheit. Christen bauten sehr häufig auf den Fundamenten heidnischer Tempel ihre Kirche. Bei St. Severin war ein spätantikes, gar nicht einmal christliches Begräbnisfeld ein derart "heiliger" Ort.