"Blinde" Kirche
Ein Säulenkapitell in St. Maternus zeigt die Synagoge als Frau mit Augenbinde und einer gebrochenen Lanze, eine Darstellung, die sich in vielen christlichen Kirchen findet. Diakon Dr. Barthel Schröder zeigt Entstehung und Auswirkung dieser judenfeindlichen Haltung auf.Säulenkapitell mit Synagogendarstellung ©S.Dencker
Die Augenbinde soll die Blindheit der Juden gegenüber Jesus von Nazareth als dem wahren Messias
zeigen; die zerbrochene Lanze symbolisiert die abgegebene Vorherrschaft an das Christentum. Die
sich selbst angelegte Augenbinde und das abgewandte Gesicht sollen darauf hinweisen, dass es sich
um eine bewusste Entscheidung der Juden gegen diesen Jesus handelt.
Diese Abbildungen künden von einem christlichen Antijudaismus, der zum Nährboden für den
Antisemitismus des Naziregimes werden sollte.
Mit welcher Intensität diese Ablehnung der Juden im kirchlichen Leben verankert war, zeigt die
Karfreitagsbitte für die Juden. Bis ins 20. Jahrhundert lautete sie: "Lasset uns auch beten für die
treulosen Juden, dass Gott, unser Herr, wegnehme den Schleier von ihren Herzen, auf dass auch sie
erkennen unsern Herrn Jesus Christus." Es folgte der Hinweis an den Vorbeter: "Hier unterlässt der
Diakon die Aufforderung zur Kniebeugung, um nicht das Andenken an die Schmach zu erneuern, mit der
die Juden um diese Stunde den Heiland durch Kniebeugungen verhöhnten." Das sich anschließende Gebet
lautete: "Allmächtiger ewiger Gott, du schließest sogar die treulosen Juden von deiner Erbarmung
nicht aus; erhöre unsere Gebete, die wir ob der Verblendung jenes Volkes vor dich bringen: Möchten
sie das Licht deiner Wahrheit, welches Christus ist, erkennen und ihrer Finsternis entrissen
werden. Durch ihn, unseren Herrn."
Erst nach der Shoah, die mehr als sechs Millionen Juden das Leben kostete, begann ein
Umdenkensprozess. Vor der Tatsache, dass Christen die Mörder gewesen waren, und dass kaum ein
Christ seine Hand für die Juden gerührt hatte, wurde sich die Theologie neu bewusst, dass der
christliche Glaube nach Paulus nur ein aufgepfropfter Zweig auf dem jüdischen Ölbaum ist, dass
christlicher Glaube ohne die jüdische Bibel nicht verstanden werden kann, dass Jesus Jude war und
nichts anderes sein wollte.
Diese andere Sicht schlug sich in der Neuformulierung der Karfreitagsbitte von 1971/1974 nieder: "Lasst uns auch beten für die Juden, zu denen Gott, unser Herr, zuerst gesprochen hat: Er bewahre sie in der Treue zu seinem Bund und in der Liebe zu seinem Namen, damit sie das Ziel erreichen, zu dem sein Ratschluss sie führen will". Es folgt jetzt auch hier eine Kniebeuge, an der sich das Gebet anschließt: "Allmächtiger, ewiger Gott, du hast Abraham und seinen Kindern deine Verheißung gegeben. Erhöre das Gebet deiner Kirche für das Volk, das du als erstes zu deinem Eigentum erwählt hast: Gib, dass es zur Fülle der Erlösung gelangt. Darum bitten wir durch Christus, unseren Herrn. Amen".
Wie sehr aber Teile der Kirche weiterhin der alten Sicht verhaftet geblieben sind, zeigt die Neufassung der Karfreitagsbitte im Gottesdienst nach tridentinischem Ritus von 2008. Die Übersetzung des lateinischen Textes lautet: "Lasst uns auch beten für die Juden, auf dass Gott, unser Herr, ihre Herzen erleuchte, damit sie Jesus Christus erkennen, den Retter aller Menschen".
Die Geschichte zeigt bis in die jüngste Gegenwart hinein, dass nicht die Synagoge, sondern die Kirche viele Jahrhunderte dem Judentum gegenüber blind war. Es ist an der Zeit, unsere Augenbinde abzunehmen und endgültig das zu sehen, was Franz Rosenzweig (jüdischer Religionsphilosoph) so trefflich formuliert hat: "Was Christus und seine Kirche in der Welt bedeuten, darüber sind wir einig: es kommt niemand zum Vater denn durch ihn. Es kommt niemand zum Vater - anders aber wenn einer nicht mehr zum Vater zu kommen braucht, weil er schon bei ihm ist. Und dies ist nun der Fall des Volkes Israel".
♦
Barthel Schröder