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Zukunft braucht Erinnerung

Fenster in St. Maternus mit der Ostersonne als Symbol des
Auferstandenen. Fenster in St. Maternus mit der Ostersonne als Symbol des Auferstandenen.

"Weißt du noch? Kannst du dich noch erinnern?", das fragen nicht nur alte Menschen einander. Wir alle leben von unseren Erinnerungen. Demenzerkrankungen zeigen jedoch, dass Menschen ihre Vergangenheit und damit ihre Orientierung in ihrem ganzen Leben an das Vergessen verlieren können. Deshalb ist es wichtig, immer wieder zu gedenken und sich alles, was in einem Leben seine Zeit und seinen Ort hat, zu erzählen und zu vergegenwärtigen.

 

Es gibt aber auch so etwas wie eine kollektive Demenz. "Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist!", lautet ihr beschwingtes Motto. Doch dieses Glück ist teuer erkauft. Der Preis ist unsere Geschichte. Auch Gemeinschaften können so ihre Identität und Orientierung verlieren.

 

Ebenfalls untauglich für die Erinnerung ist das Beispiel der Sonnenuhr, die nur die heiteren Stunden zählt. Denn auch die Niederlagen und Irrwege, die Opfer und die Schuld dürfen nicht vergessen werden, weil wir sonst nichts aus unserer Vergangenheit lernen. Wer eine gute Zukunft sucht, darf seine Herkunft nicht vergessen, um das Gute und Bewährte zu bewahren und sich vor dem Bösen und Üblen zu hüten und zu schützen.

 

Vielleicht hat jeder Mensch nicht nur zwei Augen, sondern noch ein drittes. Mit den beiden äußeren Augen sehen wir, was ist und was auf uns zukommt. Mit dem dritten, dem inneren Auge, blicken wir zurück auf das, was war und was wichtig und wertvoll bleibt. Wer auf Dauer seine Augenlider verschließt, wird blind für Gegenwart und Zukunft; wer das Auge der Erinnerung nicht öffnet, verliert seine Geschichte aus dem Blick. Erinnern aber heißt, Geschehenes wieder in den inneren Blick zu nehmen und vielleicht aus dem Abstand der Zeit sogar neu und anders wahrzunehmen und zu bewerten.

Erinnern und Gedenken können so die Gegenwart verändern und die Zukunft vorbereiten. Wer weiß, wohin er nicht mehr will, hat Kriterien für Abwege und Umwege, und wer weiß, was gut war, findet Wegweiser auf seinem Weg nach vorne.

"Gedenke!" Kaum ein Gebot der hebräischen Bibel wird dem Volk Israel so häufig ans Herz gelegt wie dieses. Es soll sich an seine Befreiung aus Ägypten, an Führung und Bewahrung in der Wüste und an das Geschenk des eigenen Landes erinnern.

Auch der christliche Gottesdienst ist eine Gedenkfeier. "Tut dies zu meinem Gedächtnis!", sagte Jesus zu seinen Jüngern beim letzten Abendmahl: Im lobpreisenden Gedenken der Eucharistie will er selbst immer wieder gegenwärtig werden und die Zukunft öffnen, die er das Reich oder die neue Welt Gottes nennt.

 

Aber auch jeder und jede Einzelne hat persönlich genug Grund zu gedenken und zu danken: für Gaben und Begabungen, Aufgaben und Erfolge oder auch dafür, dass es nicht zum Schlimmsten kam, einem das Äußerste erspart blieb: "Lobe den Herren, der künstlich und fein dich bereitet ... In wie viel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet." (Gotteslob 392,3)

Ein Leben ohne solch ein Gedächtnis kann einen schnell undankbar werden lassen.

 

Glücklich ist darum nicht, wer vergisst, sondern glücklich ist, wer gedenkt, was im Leben ihm geschenkt, wovor er bewahrt wurde oder was er überstanden hat. Das geschieht oft ganz leicht bei einem Fest mit Erzählen und Singen, Essen und Trinken.

 

Solches Gedenken braucht aber auch Orte und verabredete Zeiten für ein Treffen – sie sind wie Schutzräume gegen das Vergessen, das alles verschlingt, gegen den Lärm, der alles betäubt, gegen die Hektik, die besinnungslos werden lässt. Gedenken braucht Zeiten der Stille, Orte der Begegnung und gemeinschaftlichen Konzentration. Wenn Christen sich so versammeln, können sie sicher sein, dass ER gegenwärtig ist.

 

Unsere Kirchen sind keine Museen des Glaubens, sondern Denkmäler, die zum Dankmahl einladen und für den Aufbruch in die Zukunft stärken wollen. Sie sind wie Aussichtstürme, von denen man auf den Weg, schaut der hinter und vor einem liegt, und Leuchttürme, die Richtungen weisen.

 

In diesem Sinne feiern wir auch unsere Kirche St. Maternus im Jahr 2016 als einen Gedenk- und Dankort. Wir danken für allen Segen, den Menschen hier in den letzten 100 Jahren erfahren, und für alle Orientierung, die sie hier empfangen haben.
Mit dem Gottesvolk Israel betet auch die Kirche immer wieder: "Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat!" (Psalm 103,2)
Damit können wir dankbar und vertrauensvoll seiner Zukunft entgegengehen, wie immer diese auch aussehen mag.

Jürgen Martin

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