Der Baum geht nach dem Wind
Der Sprachpsychologe Boder nahm 1946 in ganz Europa mit einem Drahttongerät über 100 Gespräche mit Überlebenden auf. Acht dieser Interviews sind in einem Band auf Deutsch erschienen.
Original-Aussage eines ehemaligen KZ-Häftlings.Seine Sprache ist durch das erlittene Trauma stark beeinflusst; das gesamte Interview kann unter http://voices.iit.edu gehört werden:
„Eben damals, als ich das alles gesehen habe, habe ich angefangen darüber nachzudenken, was eigentlich ein Mensch ist. Ich habe gehört, ich habe damals etwas nur gewusst, Menschen geben verschiedenartige Menschen und verschiedene Charaktere. Aber ich habe mich gefragt eben, ob es wirklich so ist, dass wenn jemand von Geburt an einen Charakter ...einen bestimmten Charakter hat, ob der Charakter sich niemals im Leben ändert. Aber die Nebensachen, die ändern das Bild. Ich habe zum Beispiel genommen, wie zum Beispiel man sieht einen Baum. Die Wurzel, der Baum ist immer eingewurzelt, der Grund vom Baum ist Baum. Aber der Baum geht aber nach dem Wind. Wenn der Wind bläst von dieser Seite, da biegen sich die Zweige auf diese Seite. Also so betrachte ich auch den Charakter des Menschen. Die Bedingungen schaffen, dass der Mensch seinen Charakter ein bisschen biegt und er neigt sich den Bedingungen, das zu suchen. Da hat man gesehen Leute, intelligente Leute, gebildete Leute, gelernte Leute, die ... von welchen man überhaupt nicht gedacht hätte, dass sie so was etwas machen können. Aber trotzdem die Bedingungen und der Naziterror haben dazu geführt, dass sie ganz anders geworden sind. Sie haben sich ganz anders aufgeführt, wie man eigentlich von ihnen erwartet hat.“
Aus: David P. Boder
Die Toten habe ich nicht befragt
Universitätsverlag Winter, Heidelberg, S. 148 f.