Wenn wir aber nun in diesem Heft über Wurzeln nachdenken, müssen wir auch über die eigenen
Wurzeln nachsinnen. Woher komme ich? Wer hat mich gelehrt zu glauben, zu hoffen und zu lieben? Wo
und von wem habe ich die Werte des Lebens mitbekommen? Der Prozess, durch meine "Wurzeln" etwas
aufnehmen, was mich nährt und belebt, währt solange ich lebe.
Die Wurzeln der Pflanzen sind nicht autark, sie kommen alleine in der Erde nicht zurecht. Sie
brauchen die Zusammenarbeit, die Symbiose mit Pilzen. Wurzel und Pilz tauschen sich aus, sie helfen
sich gegenseitig. Was der eine nicht kann, kann der andere.
Wurzeln geben den Pflanzen und Bäumen Standfestigkeit. Wenn nicht gerade wieder ein "Kyrill"
durchs Land fegt, wirft einen Baum so schnell nichts und niemand um. Wenn ein Mensch tiefe Wurzeln,
einen durchdachten und gelebten Glauben hat, wirft ihn auch so schnell nichts um. Wenn wir an ein
"Fundament" denken, wissen wir, das ist aus Beton – tot, unflexibel und schnell zerbrochen,
wenn die Gewalt zu groß wird. Wurzeln aber sind lebendig, flexibel; sie wachsen nach, wenn sie
verletzt wurden.
Auch die Seele braucht Nahrung. Wie die Organe des Körpers im Laufe eines Lebens verhärten,
erstarren und schrumpfen, so kann auch unsere Seele im Laufe der Jahre eng und klein, hart,
unempfindlich und egoistisch werden. Und sie sollte doch das Gegenteil sein. "Eine Seele von
Mensch" – das ist Mitgefühl und Anteilnahme, Barmherzigkeit und Verstehen, Mut und Weite und
keinerlei Furcht oder Angst. Da die Seele etwas Lebendiges ist, kann sie wachsen oder schrumpfen;
auch sie braucht Nahrung. Wie Pflanzen sich nur dort ansiedeln (lassen), wo ihre Wurzeln Wasser und
Nährstoffe finden, so muss ich als Christ dafür sorgen, dass meine Seele nicht austrocknet und
hungert. Wo es nur Arbeit gibt und allenfalls das Abendprogramm im Fernsehen, ist das unserer Seele
auf Dauer nicht sehr bekömmlich. Wir müssen uns verwurzeln bei den Werten und den Quellen, die
unsere Seele nähren: die große Stille, die Weite der Landschaft und der Welt, Zeit, die nicht
verplant und verzweckt ist, die Schönheit der Kunst in Farben, Formen, Tönen und Melodien, die
Worte der Dichter und die Psalmen der Schrift.
Auch meine eigenen Erlebnisse, die Begegnungen mit den Menschen und ihren Schicksalen lassen
meine Seele leben und wachsen.
Nicht zu vergessen: Gottesdienst kann Nahrung für die Seele sein. Die Wurzeln der Pflanzen
suchen sich die Nahrung selbst, die Nahrung meiner Seele muss ich selbst suchen und aufnehmen. Dann
lebt die Seele auf und geht gesättigt ihren Weg.
Und wenn dann zu Weihnachten wieder geschmettert und geschluchzt wird "aus einer Wurzel zart",
dann streichen Sie das Wörtchen "zart" als den üblichen Weihnachtskitsch. Der alte Jesse (oder
Isai), der Schafzüchter und Vater des späteren Königs David und weiterer sieben Söhne, war gewiss
nicht zart. Was wir besingen, ist die Hoffnung auf einen neuen König David, aber doch auch von ganz
anderer Art als dieser, kein Haudegen, sondern ein Friedensstifter.
Johannes Krautkrämer, Pfarrvikar