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Wurzel(n)

Wenn wir "unser" Buch – das Neue Testament– aufschlagen und auf der ersten Seite zu lesen beginnen, stolpern wir über eine lange Liste von Namen: den Stammbaum Jesu. Diese Namen stammen aus einem "anderen" Buch, der hebräischen Bibel. Das heißt nun, dass das eine Buch nicht ohne das andere zu verstehen ist, das "neue" Testament ist im "alten" Testament verwurzelt. "Unser" Buch ist ohne das "andere" undenkbar. Ein Zeitgenosse hat mal gesagt: "Es ist eine Sünde, wenn wir das Neue Testament als Einzelausgabe drucken lassen." Wie eine Pflanze ohne Wurzel verdorrt, so kann der Christenglaube ohne die hebräische Bibel nicht leben.

 

Wer dann im Neuen Testament weiterliest und auf das dritte Buch stößt, auf das Lukasevangelium, findet im dritten Kapitel eine ähnliche Namensliste. Dieser Stammbaum beginnt bei Josef und geht zurück in die Vergangenheit bis zu Adam. Die Liste des Matthäus nimmt den umgekehrten Weg, sie geht von Abraham aus in die Zukunft bis zu Maria. Einige der Namen aus diesen Stammbäumen finden sich im Alten Testament wieder, die meisten aber nicht. Mit ganz großer Sicherheit können wir sagen, dass beide Stammbäume nicht stimmen.

 

Durchs Internet beflügelt versuchen heute viele Menschen ihren eigenen Stammbaum möglichst weit in die Vergangenheit hinein zuverfolgen. In diesem Sinne einer natürlichen Abstammung sind die Stammbäume Jesu unsinnig. Diese Arbeit konnte damals keiner leisten. Theologisch gilt vor allem eines: Jesus ist tief verwurzelt im Glauben und in der Geschichte seines Volkes Israel. Für manche Juden und für die Muslime ist Jesus ein großer Prophet. Für uns Christen ist er der Höhepunkt der Selbstoffenbarung Gottes. In ihm, dem Spross aus dem Stamm Jesse, zeigt Gott uns sein Gesicht.

 

Wenn wir aber nun in diesem Heft über Wurzeln nachdenken, müssen wir auch über die eigenen Wurzeln nachsinnen. Woher komme ich? Wer hat mich gelehrt zu glauben, zu hoffen und zu lieben? Wo und von wem habe ich die Werte des Lebens mitbekommen? Der Prozess, durch meine "Wurzeln" etwas aufnehmen, was mich nährt und belebt, währt solange ich lebe.

 

Die Wurzeln der Pflanzen sind nicht autark, sie kommen alleine in der Erde nicht zurecht. Sie brauchen die Zusammenarbeit, die Symbiose mit Pilzen. Wurzel und Pilz tauschen sich aus, sie helfen sich gegenseitig. Was der eine nicht kann, kann der andere.

 

Wurzeln geben den Pflanzen und Bäumen Standfestigkeit. Wenn nicht gerade wieder ein "Kyrill" durchs Land fegt, wirft einen Baum so schnell nichts und niemand um. Wenn ein Mensch tiefe Wurzeln, einen durchdachten und gelebten Glauben hat, wirft ihn auch so schnell nichts um. Wenn wir an ein "Fundament" denken, wissen wir, das ist aus Beton – tot, unflexibel und schnell zerbrochen, wenn die Gewalt zu groß wird. Wurzeln aber sind lebendig, flexibel; sie wachsen nach, wenn sie verletzt wurden.

 

Auch die Seele braucht Nahrung. Wie die Organe des Körpers im Laufe eines Lebens verhärten, erstarren und schrumpfen, so kann auch unsere Seele im Laufe der Jahre eng und klein, hart, unempfindlich und egoistisch werden. Und sie sollte doch das Gegenteil sein. "Eine Seele von Mensch" – das ist Mitgefühl und Anteilnahme, Barmherzigkeit und Verstehen, Mut und Weite und keinerlei Furcht oder Angst. Da die Seele etwas Lebendiges ist, kann sie wachsen oder schrumpfen; auch sie braucht Nahrung. Wie Pflanzen sich nur dort ansiedeln (lassen), wo ihre Wurzeln Wasser und Nährstoffe finden, so muss ich als Christ dafür sorgen, dass meine Seele nicht austrocknet und hungert. Wo es nur Arbeit gibt und allenfalls das Abendprogramm im Fernsehen, ist das unserer Seele auf Dauer nicht sehr bekömmlich. Wir müssen uns verwurzeln bei den Werten und den Quellen, die unsere Seele nähren: die große Stille, die Weite der Landschaft und der Welt, Zeit, die nicht verplant und verzweckt ist, die Schönheit der Kunst in Farben, Formen, Tönen und Melodien, die Worte der Dichter und die Psalmen der Schrift.

 

Auch meine eigenen Erlebnisse, die Begegnungen mit den Menschen und ihren Schicksalen lassen meine Seele leben und wachsen.

 

Nicht zu vergessen: Gottesdienst kann Nahrung für die Seele sein. Die Wurzeln der Pflanzen suchen sich die Nahrung selbst, die Nahrung meiner Seele muss ich selbst suchen und aufnehmen. Dann lebt die Seele auf und geht gesättigt ihren Weg.

 

Und wenn dann zu Weihnachten wieder geschmettert und geschluchzt wird "aus einer Wurzel zart", dann streichen Sie das Wörtchen "zart" als den üblichen Weihnachtskitsch. Der alte Jesse (oder Isai), der Schafzüchter und Vater des späteren Königs David und weiterer sieben Söhne, war gewiss nicht zart. Was wir besingen, ist die Hoffnung auf einen neuen König David, aber doch auch von ganz anderer Art als dieser, kein Haudegen, sondern ein Friedensstifter.

 

Johannes Krautkrämer, Pfarrvikar

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