Eine Analyse des Matthäus- und Lukas-Evangeliums zeigt, dass die Verfasser sowohl das
Markus-Evangelium wie auch eine Sammlung von Aussprüchen Jesu als Quellen benutzt haben. Diese
Sammlung, Logienquelle Q genannt, ist in den letzten Jahren, da nicht als Abschrift vorhanden,
rekonstruiert und im Detail untersucht worden.
Einer der überlieferten Aussprüche Jesu lautet dort:
„Wer nicht hasst Vater oder Mutter, kann nicht sein mein Jünger. Wer nicht hasst Sohn
oder Tochter, kann nicht sein mein Schüler.“ (Q 14, 26).
„Einen Menschen lieben“ bedeutet nach biblischem Verständnis, dass man fair
miteinander umgeht, dass man dem anderen das zukommen lässt, was ihm zusteht. „Hassen“
als Gegensatz zum Lieben ist daher keine emotionale Aussage, sondern bringt zum Ausdruck, dass
weder Eltern noch Kinder zu ihrem Recht kommen, tragen doch die, die Jesus begleiten, nichts mehr
zu ihrer Versorgung bei.
Es fällt auf, dass Jesus nicht fordert, auch die Ehefrau zu verlassen. Lukas, der zwei
Generationen später diesen Ausspruch Jesu in seinem Evangelium übernimmt, meint daher nicht nur,
das „hassen“ durch „gering achten“ abschwächen zu müssen, sondern er
ergänzt ihn auch um die Ehefrau:
„Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und
Schwestern, ja sogar sein Leben gering achtet, dann kann er nicht mein Jünger sein.“
(Lukas 14, 26).
Nimmt man den älteren Spruch aus der Logienquelle als ursprüngliche Äußerung Jesu, dann müssen
Ehepaare von ihm angesprochen worden sein. Und dies hat Konsequenzen für das Verständnis des
Zwölferkreises der Apostel. Martin Ebner schreibt in seinem Buch: „Die Zahl Zwölf steht
natürlich für die zwölf Stämme Israels, die jeweils durch ihre Stammväter repräsentiert werden.
Deshalb erscheinen in der Namensliste auch nur Männer. Allerdings müssen, wenn die Symbolik greifen
und der Fortbestand des Gottesvolkes gesichert sein soll, Stammväter verheiratet sein – vor
und nach ihrem Anschluss an Jesus. Wir müssen uns also – ganz auf der Linie von Q 14, 26
– an der Seite der zwölf „Stammväter“ auch zwölf „Stammmütter“
vorstellen.
Wenn das aber gilt, dann schickt Jesus, wenn er seine Jünger „zwei und zwei“
ausschickt (Markus 6, 7; Lukas 10, 1), nicht jeweils zwei Männer, sondern Ehepaare aus, seine
Botschaft zu verkünden. So wird verständlich, warum in der Mission von Paulus missionierende
Ehepaare genannt werden: Priska und Aquila (Apostelgeschichte 18, 2; Römerbrief 16, 3f.),
Andronikus und Junia (Römerbrief 16, 7) und Petrus mit seiner Ehefrau (1 Korintherbrief 9,
5).
Auch andere Aussagen des Neuen Testamentes erscheinen nach Martin Ebner in einem neuen Licht.
Wenn es bei Matthäus heißt: „Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten
nicht und sammeln keine Vorräte in Scheunen ... Lernt von den Lilien, die auf dem Feld wachsen: Sie
arbeiten nicht und spinnen nicht.“ (Matthäus 6, 25ff.), so werden genau die Tätigkeiten
verneint, die die Wanderpredi-ger aufgegeben haben. Die Vögel stehen für die Männer, die nicht mehr
säen und ernten, und die Lilien für die Frauen, die nicht mehr spinnen und weben.
Martin Ebner fährt fort: „Eher intuitiv, ohne dass es ins Wort gehoben wird, dürfte hinter
dieser Ehepaar-Missionseinheit ein weisheitlicher Gedanke stehen, der die einfache Erfahrung
aufruft, dass zwei besser sind als einer allein, am besten aber ein Paar. Im Buch Kohelet 4, 9-12
wird das, bezogen auf die Reisesituation, rührend ins Wort gesetzt: „Zwei sind besser als
einer allein, falls sie nur reichen Ertrag aus ihrem Besitz ziehen. Denn wenn sie hinfallen,
richtet einer den Anderen auf. Doch wehe dem, der allein ist, wenn er hinfällt, ohne dass einer bei
ihm ist, der ihn aufrichtet. Außerdem: Wenn zwei zusammen schlafen, wärmt einer den anderen; einer
allein – wie soll er warm werden? Und wenn jemand einen einzelnen auch überwältigt, zwei sind
ihm gewachsen, und eine zweifache Schnur reißt nicht so schnell“.
Ist uns nicht zugesagt, dass uns der Geist immer tiefer in die Wahrheit einführen wird?