Schicksal Kriegskind
Agnes Frings und ihr Bruder 1938, als ihre Welt noch in Ordnung war ©privat
„Was ich erlebt habe, haben ganz viele andere auch erlebt im Krieg, ich war kein Einzelschicksal“, sagt Agnes Frings, und es dauert eine Weile, bis sie bereit ist, für den Pfarrbrief von ihren Erlebnissen zu sprechen. Zu groß ist ihre Sorge, sie könne sich in den Vordergrund drängen. Die aktive Seniorin, die in vielen Bereichen der Pfarrgemeinde engagiert ist, möchte lieber im Hintergrund bleiben.
„Als das Archiv einstürzte, da hatte ich auf einmal den Bombenangriff wieder vor Augen, und da habe ich auch von der Zeit damals geträumt.“ Die innere Bewegung ist ihrer Stimme anzuhören, als sie davon spricht. Und mehr als einmal weint sie im Verlauf unseres Gespräches.
Von einem Moment auf den anderen hat sich das Leben der damals 15-jährigen verändert. Am 30. Dezember 1944 wurde das Haus in Troisdorf, in dem sie mit ihrer Familie erst kurze Zeit wohnte, von einer Bombe getroffen. Es stürzte ein und begrub viele Menschen – darunter Eltern und Bruder – unter sich. „Ich selbst war nur halb verschüttet und konnte mich befreien. Wie durch ein Wunder blieb ich unverletzt. Ich bin alleine kreuz und quer durch die Straßen gelaufen, wie im Schock. Dauernd schlugen Bomben ein. Ob meine Eltern und mein Bruder noch lebten, wusste ich nicht. Das Haus lag in Trümmern, nur in einem unversehrten Teil lag noch unser geschmückter Christbaum!“ Erst später erfuhr sie, dass beide Eltern tot waren, dass der Bruder vom Luftdruck in einen anderen Keller geschleudert worden war und auf jemand anderem gelegen hatte, der schwer verletzt war. Er selbst war nicht verletzt. Der Vater wurde nicht gefunden, die Mutter sahen die Kinder bei den 15 Toten des Bombenangriffs liegen. Die beiden Jugendlichen (der Bruder war 13 Jahre alt) standen buchstäblich „mutter- und vaterseelenallein“ da, ohne einen Pfennig Geld und ohne anderen Besitz. Schließlich konnten sie sich zu den Großeltern nach Waldbröl durchschlagen, bei denen sie an Silvester ankamen. Aber die Großeltern schickten sie weg – bei diesem Bericht weint Agnes Frings – , es lebten schon andere Kinder aus der Verwandtschaft bei ihnen. Es gab Verwandte, die Geld hatten, aber die wollten von den beiden verwaisten Kindern nichts wissen. Schließlich nahm die jüngste Schwester des Vaters in Köln sich ihrer an. In Köln erlebten sie dann auch noch den letzten schweren Angriff am 3. März 1945 im Bunker in der Elsaßstraße.
Auf Dauer konnten die Geschwister aber nicht bei der Tante bleiben, denn als Kriegerwitwe stand sie mit zwei Jungen allein da. Der Bruder begann eine Installateurlehre und zog in ein Lehrlingsheim. Die Kosten dafür übernahm eine andere Tante von ihrem schmalen Gehalt. „Ich selbst musste eine Arbeitsstelle mit Kost und Logis finden, um zu überleben“, stellt Agnes Frings nüchtern fest. Beide Kinder hätten gern noch die Schule besucht, aber weiterführende Schulen kosteten Geld, und das war nicht da. Niemand beantragte eine Waisenrente. Statt dessen fand das junge Mädchen eine Stelle in einer Bäckerei, zuerst im Haushalt, dann im Verkauf. Eine harte Zeit mit viel Arbeit und wenig Geld. „Die abgeschnitten Brotkanten durfte ich mitnehmen, und wenn ich dann meinen Bruder im Lehrlingsheim besuchte, haben wir die mit Hochgenuss gegessen, die anderen Lehrlinge auch“, erzählt Agnes Frings, und wichtig ist ihr zu sagen: „Brot war zu der Zeit etwas Kostbares.“
Sie und ihr Bruder hätten dringend seelische Unterstützung von Psychologen oder Geistlichen gebraucht. „Aber so etwas gab es damals nicht“, bedauert sie. Statt dessen erinnert die Seniorin sich an viele Gottesdienste, die sie als Jugendliche besuchen musste, Gottesdienste, die ihr in wenig guter Erinnerung geblieben sind. Für ihren späteren Glaubensweg entscheidend war eine ganz andere Erfahrung: In einem Haus in Troisdorf, in das sie nach dem Bombenangriff flüchtete, beteten Menschen den Rosenkranz: „Das hat mich tief beeindruckt. Und diese Menschen haben sich liebevoll um mich gekümmert in meiner Not und Verstörtheit.“
Viele Jahre später lernte Agnes Frings ihren Mann kennen, mit dem gemeinsam sie in der Pfarrgemeinde eine Heimat fand. Er starb früh, mit 63 Jahren. Schwer sei das gewesen, aber die Familie, der Freundeskreis, die Menschen in der Pfarrgemeinde, waren ihr Halt und Stütze. Sehr schmerzlich war für sie auch der Tod des Bruders, der 59-jährig starb. „Die enge Verbindung zu ihm ist immer geblieben.“
Wer Agnes Frings – inzwischen Großmutter und Urgroßmutter – heute erlebt, etwa als lebhafte und fröhliche Leiterin des Seniorentanzkreises oder des Seniorenclubs, kann sich kaum vorstellen, wie schwer der Lebensweg dieser Frau in jungen Jahren war.
Das Gespräch mit Agnes Frings führte Ingrid Rasch.