Es ist der 26. Januar 2011. Gestern erreichte mich die schreckliche Nachricht, dass ein ehemaliges
Mitglied aus unserer Jugend-Leiterrunde bei einem Attentat in Moskau ums Leben gekommen ist.
Seitdem herrscht bei mir und vielen anderen Gemeindemitgliedern Fassungslosigkeit. Ein paar Tage
zuvor hatten wir noch gemeinsam bei der Pfarrsitzung Karneval gefeiert.
In den Telefonaten mit Freundinnen und Freunden des Verstorbenen spüre ich: Allen geht es
ähnlich. Fragen, auf die keiner eine Antwort hat, tauchen immer wieder auf: Wie konnte das
geschehen? Warum musste der junge Mann zum falschen Augenblick am falschen Ort sein? Wieso musste
das passieren? WARUM? Ein Augenblick, der alles radikal ändert und vieles in Frage stellt.
Schockstarre, Fassungslosigkeit, Traurigkeit und Nachdenklichkeit. Plötzlich ist alles anders. Die
Kostbarkeit und die Einmaligkeit unseres Lebens werden einem bewusst.
Es sind nicht immer solch außergewöhnliche Dinge, die unsere Lebenspläne und Gewohnheiten
durchbrechen. Aber gerade in solch extremen Situationen wird besonders deutlich, wie gefährdet
unsere menschliche Existenz ist, wie sehr unser Leben ein Geschenk ist.
Auch wenn wir es gerne anders hätten: Schmerz, Krankheit, Trauriges, Streit gehören von
Kindertagen an zu unserer Lebenswirklichkeit. Religionen und Philosophien, die das ausblenden,
verdrängen einen existenziellen Teil menschlicher Erfahrung und werden so schnell zur
Ideologie.
Nicht wenige reiben sich daran, dass das Kreuz für uns Christen ein so zentrales Symbol geworden
ist. Mir ist es inzwischen ganz wichtig geworden. Es steht für all das Leidvolle, das Menschen in
der ganzen Welt zu (er-)tragen haben. Es erinnert an die vielen, die für ihren Glauben und mit
ihrem Eintreten für Menschlichkeit ausgegrenzt, unterdrückt, ermordet wurden. Es lässt all die
vielen nicht vergessen, die am Schicksal ihres Lebens schwer zu tragen haben. Das Kreuz ist für
mich die Mahnung, nicht wegzusehen, wenn Schlimmes geschieht, und mich nicht abzuwenden von denen,
die Hilfe brauchen.
Ich glaube, dass es niemanden gibt, der eine wirklich befriedigende Antwort auf die Frage hat,
woher all das Leid und all die Not kommen. Und doch gibt es eine spezifisch christliche Art, auf
das Leid und die Not in der Welt zu antworten: Barmherzigkeit, Solidarität, (Mit-)
Menschlichkeit.
„Dann wird der König denen auf der rechten Seite sagen: Kommt her, die ihr von meinem
Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt
ist. Ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken
gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir
Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir
gekommen.“ (Mt 25,34-37)
So bringt es Jesus im Matthäus-Evangelium auf den Punkt: In den Augen Gottes ist es
entscheidend, dass wir uns unseren Mitmenschen zuwenden. In den Sonntagsgottesdiensten der
Fastenzeit haben wir dies miteinander bedacht. Wo Menschen einander in solcher Solidarität
beistehen, einander Trost sind, sich gegenseitig aufbauen und ermutigen, da geschieht oft eine
Verwandlung. Diese Verwandlung ist für mich ein Geheimnis des Glaubens. Oft wächst genau hier
– in der miteinander durchlittenen Not – neue Lebenskraft. Die Trauer findet Trost und
wird zu neuer Hoffnung. Die Angst wird besiegt, gewandelt zu neuer Kraft und Stärke. In tiefster
Nacht entdeckt man das Aufgehen der Sonne zu einem neuen Tag. Und gemeinsam wird es möglich, eine
schwere Situation auszuhalten, anstatt sie zu verdrängen und auszublenden.
Wenn wir in solcher Weise miteinander und füreinander da sind, dann wird etwas konkret erlebbar
von dem Gott, an den wir glauben und dessen Name heißt „Ich-bin-da-für-euch“.
Gott selbst kennt die Not von uns Menschen: „Er sieht das Elend seines Volkes, er kennt
sein Leid“ (vgl. Ex 3,7) Wir können vertrauen darauf, „dass Gott mit uns unterwegs ist
und bei uns ist, alle Tage unseres Lebens.“ (Mt 28,20). Das kann zu wirklichem Trost werden
für den, der in Not ist. Zur billigen Vertröstung wird es, wenn wir diesen Gott nur im Munde
führen, nicht aber die Nähe zu unseren Mitmenschen suchen, nicht den Armen und Schwachen zur Seite
stehen, nicht mitarbeiten an einer Zivilisation der Liebe.
Vielleicht ist das Mit-Leiden die spezifische Antwort, die wir als Christinnen und Christen
haben auf die drängende Frage: Warum lässt Gott das zu? Im Mit-Leiden und Mit-Fühlen wird
erfahrbar: Du bist nicht allein mit dem, was dir das Leben schwer macht. Wo ein solches
Füreinander-da-Sein gelebt wird, da kann ein „neuer Himmel und eine neue Erde werden.“
(Off 21,1-4)
Und so ist die Botschaft der Auferstehung Jesu, die wir Ostern feiern, auch eine Hoffnung
darauf, dass wir als neue Menschen zu einem ganz neuen Leben „auferstehen“, zu einem
Leben in mitfühlender, mitleidender Barmherzigkeit.
Ihr Frank Reintgen
Matthäus-Evangelium Kapitel 25, Verse 34-37
Buch Exodus Kapitel 3,Vers 7
Matthäus-Evangelium Kapitel 28,Vers 20
Offenbarung Kapitel 21, Verse 1-4