Auf dem Weg zum Gipfel
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... wie oft die einzelnen Evangelien voneinander abweichen, ja sich widersprechen? Das ist kein
Problem für den Glauben, solange es äußere Abläufe betrifft. Die Evangelien wollen nicht Geschichte
schreiben, sondern eine Botschaft verkünden. Die Einkleidung dieser Botschaft kann unterschiedlich
sein.
Aber auch die Botschaft selbst ist nicht immer gleich. Auf manche Glaubensfragen bietet das
Neue Testament an verschiedenen Stellen verschiedene Antworten. Das darf nicht verwundern. Die
ersten Jünger Jesu waren einfache Leute, keine Theologen. Die Geschehnisse, deren Zeugen sie
wurden, mussten ihr Verständnis überfordern. So versuchten sie mit unterschiedlichen Ansätzen, das
Unbegreifliche zu verstehen.
Und diese Versuche dauern bis heute an. Seit Jahrhunderten diskutieren die Theologen über den
wahren Glauben oder streiten sich auch. Und manches, was die katholische Kirche früher verworfen
hat, erkennt sie heute an. Und umgekehrt. Seien wir froh über die mögliche Vielfalt. Ich möchte das
mit einem Beispiel verdeutlichen. Eine Gruppe von Bergsteigern unternimmt eine gemeinsame Tour.
Dabei fotografieren sie auch fleißig. Das eine Bild zeigt den Berg von weitem in seiner Größe. Das
andere eine Almwiese mit prächtigen Blumen, wieder ein anderes eine gastliche Berghütte, wieder ein
anderes einen unwirtlichen Gletscher, hier ragt das Gipfelkreuz gegen den Himmel, da überwältigt
ein Panoramablick. Jedes Bild ist anders, dem einen gefällt dieses, dem anderen jenes besser.
Und alle zusammen zeigen ein treffenderes Bild von dem Berg als jedes einzelne. Gott aber überragt
unser Verständnis und unsere Fassungskraft noch unendlich mehr als jeder Berg.
Hieraus ergibt sich das Recht auf eine ganz persönliche Glaubensentscheidung. Der jetzige Papst
hat einmal gesagt: „Es gibt so viele Wege zu Gott wie es Menschen gibt.“ Auf dem Gipfel
treffen alle Wege zusammen. Selbst die Wege derer, die eigentlich gar nicht auf den Gipfel
wollten...
Karl J. Kassing